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Weiterentwicklung der europäischen Berufsbildungspolitik

Der Deutsche Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Europäische Rat hat im März 2000 in Lissabon das Ziel festgeschrieben, Europa bis zum Jahr 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. Dem anschließend legte der Europäische Rat 2002 in Barcelona die Vorgabe fest, dass die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung bis 2010 zu einer weltweiten Qualitätsreferenz werden sollen. Der Kopenhagen-Prozess (2002) lieferte den allgemeinen Rahmen für die Entwicklung der Berufsbildung in Europa. Unter anderem hat er die Zusammenarbeit, den Vergleich und die Kompatibilität der Berufsbildungspolitik vorangetrieben.

Europa soll zu einer Wissensgesellschaft entwickelt werden. Für diesen Prozess sind die Leistungspotentiale der Menschen von entscheidender Bedeutung. Diesem Wunsch stehen 80 Millionen EU-Bürger gegenüber, die zur Gruppe der gering Qualifizierten zählen. Das begründet einen hohen Stellenwert für Bildung, Wissen und Fähigkeiten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Verbesserung ihres Qualifikationsniveaus. Von der Begabtenförderung über eine breite Bildungsvermittlung, dem lebenslangen Lernen als eigenständige Säule des Bildungssystems bis hin zur Benachteiligtenförderung müssen Ausbildung und Qualifikation allen europäischen Bürgerinnen und Bürgern offen stehen. Zur Gestaltung eines europäischen Bildungsraumes bedarf es verschiedener Instrumente, damit die oben genannten Ziele erreicht werden können. Hierzu gehört auch ein Höchstmaß an Mobilität zwischen Bildungssystemen und die gegenseitige Anrechenbarkeit von Kompetenzen, die betrieblich oder schulisch erreicht werden.

Dazu zählen unter anderem ein europäischer Qualifikationsrahmen (EQR), ein europäisches Leistungspunktesystem in der beruflichen Bildung und der Europass. Mit acht Qualifikationsstufen sollen Kompetenzen bewertet werden, die in einem europäischen Bildungssystem zu Vergleichbarkeit und Mobilität führen sollen. Der Nationale Qualifikationsrahmen sollte mit einem eigenen Einstufungssystem in Form einer Matrix entwickelt werden. Bei der Schaffung eines Nationalen Qualifikationsrahmens sollten neben formalisierten Berufs- und Bildungsabschlüssen auch Berufserfahrung und Lernergebnisse, die in beschäftigungsnahen Qualifikationsprozessen erworben werden, angemessen berücksichtigt werden. Hierzu gehört die Bewertung von Kompetenzen unabhängig von ihrem schulischen, akademischen oder betrieblichen Zugang. Wir begrüßen bei der Entwicklung des EQR die Berücksichtigung der praktischen Fähigkeiten.

Die Europäische Kommission hat nach einem im Jahr 2005 durchgeführten Konsultationsprozess, an dem sich auch Deutschland mit Stellungnahmen beteiligt hat, im September 2006 einen Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen vorgelegt.

Der Europass wurde nach der Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates im Dezember 2004 (EG Nr. 2241/2004) am 1. Januar 2005 eingeführt. Der Europass umfasst die fünf Dokumente Europass - Lebenslauf, - Mobilität, - Zeugniserklärung, - Sprachenpass sowie das Diploma Supplement (Erläuterung zum Abschlusszeugnis im Hochschulbereich). Er hilft den Bürgerinnen und Bürgern dabei, ihre Qualifikationen und Kompetenzen europaweit verständlich dokumentieren zu können. Über das auf Gemeinschaftsebene betriebene Europass-Internetportal können die Bürgerinnen und Bürger ihren Europass-Lebenslauf und ihr Sprachenportfolio selbst ausfüllen. Besonders der Europass-Mobilität wurde in Deutschland bisher sehr gut angenommen, muss aber noch breiter eingesetzt werden. Seit Oktober 2005 wurden in Deutschland bis Ende Juni 2006 8.626 Europässe-Mobilität beantragt. In ihm werden Lernzeiten in anderen Ländern unabhängig von der Art der Lernerfahrung verzeichnet.

Die heutige Anerkennungsrichtlinie der EU ist in Bezug auf die berufliche Ausbildung völlig unbefriedigend. So wird derzeit die berufliche Ausbildung in anderen Ländern nicht genügend anerkannt. Das gilt auch für die berufliche Weiterbildung. Es überwiegt in der Bewertung die allgemeine schulische und hochschulische Qualifizierung, während Berufsabschlüsse oft nur unter ihrem eigentlichen Niveau gesehen werden. Mit dem EQR-Ansatz können und wollen wir das Berufsprinzip europaweit stärken, flexibilisieren und mit dem lebenslangen Lernen vernetzen. Die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes mit einem europäischen Qualifikationsrahmen muss diese Situation maßgeblich verbessern. Wir wollen die Debatte nutzen, um die integrative Kraft der dualen Ausbildung darzustellen und für sie verstärkt europaweit zu werben.


II. Der Deutsche Bundestag begrüßt:
  1. die Entwicklung eines europäischen Qualifikationsrahmens. Mit dem EQR wird ein gemeinsames Bezugssystem für Qualifikationen entwickelt, das auf alle Bildungssysteme in Europa anwendbar ist. Der EQR soll als ein Vergleichs- und Übersetzungsinstrument konzipiert werden, der als Metarahmen die unterschiedlichen nationalen Bildungssysteme in Bezug setzt und vergleichbar macht. Wir begrüßen das Ziel, die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa transparent darzustellen, um die Mobilität der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen;

  2. die Weiterentwicklung des europäischen Berufsbildungsraumes durch die Verbesserung der Transparenz von Abschlüssen und ihrer Akzeptanz und Anerkennung;

  3. die Möglichkeit durch das neue Berufsbildungsrecht, dass auf das Ausbildungsziel ausgerichtete Ausbildungsabschnitte im Ausland als reguläre Teile einer Berufsausbildung anerkannt werden;

  4. bei der Entwicklung eines EQRs die Verbesserung der Zugangschancen für die Bürgerinnen und Bürger jeden Alters zu qualifizierter Ausbildung und lebensbegleitenden Bildungsmaßnahmen;

  5. die Entwicklung eines europäischen Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung (ECVET). Unabhängig davon, wo gelernt wurde, sollen Lernergebnisse durch Vergabe von Leistungspunkten bewertet, vergleichbar und übertragbar gemacht werden. Dabei sind auch Schnittmengen beim Wechsel von der Hochschule in den Betrieb oder vom Betrieb in die Hochschule möglich, die im jeweiligen Ausbildungsgang anzurechnen sind. Hochschulen und Berufsbildung müssen sich stärker füreinander öffnen. Die Einführung eines EQRs in Verbindung mit einem ECVET trägt wesentlich zur Entwicklung eines europäischen Bildungsraumes bei. Grundgedanke für ein europäisches Leistungspunktesystem ist es, die Voraussetzung für Transparenz der Qualifikationen und darauf aufbauend für gegenseitige Anerkennung und Anrechnung in den Bildungssystemen Europas zu schaffen;

  6. die Chancen und Möglichkeiten bei der Entwicklung eines zukünftigen nationalen Qualifikationsrahmens (NQR). Die Zuordnung von Qualifikationen und Abschlüssen zu Niveaustufen ist Aufgabe der einzelnen Staaten. Damit können unterschiedliche nationale Anforderungen berücksichtigt und eine angemessene Einstufung deutscher Qualifikationen sichergestellt wer- den. Dies gilt insbesondere für die duale Berufsausbildung und die berufliche Weiterbildung;

  7. den Europass. Er ist ein Instrument, um Transparenz im europäischen Bildungsraum herzustellen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
  1. sich zur Umsetzung und Weiterentwicklung der europäischen beruflichen Bildung weiterhin maßgeblich an der Weiterentwicklung eines europäischen Berufsbildungsraumes zu beteiligen. Hierzu gehört auch die Entwicklung europäischer Berufsbilder als freiwillige Option;

  2. sich bei der Entwicklung eines EQRs dafür einzusetzen, dass die Ergebnisorientierung und somit der Erwerb von Kompetenzen bei der Bewertung im Vordergrund steht, egal ob sie auf schulischem, akademischem oder betrieblichem Wege erworben wurden;

  3. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines EQRs eine angemessene Einstufung deutscher Qualifikationen – auch als Weichenstellung für eine spätere Einstufung durch einen nachfolgenden NQR – sichergestellt wird. Das gilt für das gesamte Feld der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Einem modernen Berufskonzept kommt zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses eine besondere Bedeutung zu. Das Ziel ist die immer wieder aktualisierte Berufsfähigkeit im erlernten Beruf. Das schließt prinzipiell reflektierte Arbeitserfahrung und damit das Lernen im Arbeitsprozess ein. Neben den Berufs- und Bildungsabschlüssen müssen somit die Berufserfahrung und Lernergebnisse erfasst werden, die in beschäftigungsnahen Qualifikationsprozessen erworben werden und so zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit beitragen;

  4. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines EQRs die Deskriptoren so ausgestaltet werden, dass sie aus der Praxis heraus entwickelt werden, somit verständlich sind und angewendet werden können sowie im Detail noch weiter im Hinblick auf ihre Tauglichkeit im Berufsbildungsbereich optimiert werden;

  5. bei der Entwicklung eines EQRs darauf hinzuwirken, dass dieser praxisorientiert und anwenderfreundlich gestaltet wird. Der EQR ermöglicht, dass die überall in der EU von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erworbenen Nachweise über Qualifikation, Wissen und Fertigkeiten für Berufs- und Weiterbildungszwecke in einem Rahmen eingestuft werden und schafft damit Transparenz;

  6. sich bei der Entwicklung eines EQRs dafür einzusetzen, dass das Prinzip der Freiwilligkeit bei der Teilnahme der Mitgliedstaaten am EQR beibehalten wird. Die Verbindung der nationalen Qualifikationssysteme mit dem EQR ist als Prozess zu betrachten, der bis zum Jahr 2011 im Wesentlichen abgeschlossen sein sollte;

  7. darauf hinzuwirken, dass nach der Einführung des EQRs und bei der Entwicklung eines ECVETs von Anfang an Verfahren zur Aktualisierung, Evaluation und Qualitätssicherung etabliert werden;

  8. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines EQRs und bei der Entwicklung eines ECVETs neben den Bereichen der formalen Bildungsgänge auch informelles Lernen einbezogen wird. Informell erworbene Kompetenzen sind unter anderem auch Berufserfahrungen;

  9. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines ECVETs die Gleichwertigkeit (nicht die Gleichartigkeit) von beruflicher und allgemein schulischer und hochschulischer Bildung zu Grunde gelegt wird. Dass bedeutet, dass für vergleichbare Leistungen gleiche Punktzahlen vergeben werden;

  10. bei der Entwicklung eines zukünftigen NQRs neben den Bundesländern auch die Wirtschafts- und Sozialpartner miteinzubeziehen;

  11. darauf hinzuwirken, dass der EQR mit dem im Rahmen des Bologna-Prozesses entwickelten Qualifikationsrahmen für den Europäischen Hochschulraum (EHEA-QF) kompatibel ist;

  12. Maßnahmen zu ergreifen, dass bei der Schaffung eines EQRs und bei der Entwicklung eines ECVETs das Berufsprinzip weiter gesichert ist und durch eine Orientierung an den Lernergebnissen gestärkt wird. Modularisierungen sollten für Differenzierungen dienen als Grundlage für die Beschreibung, Bewertung und Anrechnung wählbarer Qualifikationen und Kompetenzen. Die Modularisierung darf jedoch das Berufskonzept nicht ersetzen. Die Berufe und Weiterbildungsprofile sollten weiter nach dem Berufsbildungsgesetz geordnet werden;

  13. Maßnahmen zu ergreifen, dass die Entwicklung eines ECVETs langfristig mit dem bestehenden europäischen Kredit-Transfersystem (ECTS) zusammengeführt wird;

  14. Mitgliedstaaten mit Erfahrungen in dualen bzw. arbeitsplatznahen Berufsbildungssystemen in Austausch zu bringen, um durch gemeinsame Aktionen gleiche Wettbewerbsbedingungen für die duale Berufsbildung in Europa zu sichern;

  15. den Bekanntheitsgrad des Europasses durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit weiter zu erhöhen, damit die entsprechenden Zielgruppen aus dem Schul-, Berufsbildungs- und Hochschulbereich sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstärkt davon Gebrauch machen;

  16. zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems im europäischen Wettbewerb das Bildungssystem durchlässiger zu machen. Dies bedeutet, dass bei einem Wechsel in einen anderen Bildungsgang verstärkt auf bereits erworbene Qualifikationen aufgebaut wird und dass die erworbenen Kompetenzen auch auf die Ausbildungsdauer oder die Prüfung angerechnet werden. Die Erhöhung der Durchlässigkeit des Bildungssystems – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – erleichtert den Erwerb und den Zugang zu höherer Bildung in der Weiterbildung und im Hochschulsektor;

  17. Maßnahmen zu ergreifen, um die Beteiligung an beruflicher Weiterbildung zu erhöhen. Insgesamt geht in der EU die Beteiligung an beruflicher Weiterbildung zurück. Hierbei sind alle Beteiligten gefordert. Es müssen Maßnah- men entwickelt werden, die die Aus- und Weiterbildungsbereitschaft intensivieren und zu einem Konzept lebenslanges Lernen verstärken;

  18. Maßnahmen zu ergreifen, um die Weiterbildungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz zu erleichtern sowie Fernunterricht und On-Line-Lernen zu fördern.

IV. Der Deutsche Bundestag erwartet von den Ländern:
  1. 1. den Europass an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen verstärkt vorzustellen;

  2. die Lehrkräfte der berufsbildenden Schulen weiterhin auf einem hohen Niveau auszubilden und entsprechend zu entlohnen. Die Qualität der Berufsbildung ist auch abhängig von der Qualifikation der Ausbilder und Lehrkräfte. Hierzu gehört ebenso ein Konzept zur permanenten Weiterbildung, das auch grenzüberschreitende Betriebspraktika für Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen beinhaltet.

V. Der Deutsche Bundestag appelliert an die Tarifpartner,

vermehrt Vereinbarungen zum lebensbegleitenden Lernen in Tarifverträgen zu verankern, um damit das deutsche Bildungssystem zu stärken und die Weiterbildungsbereitschaft zu steigern.

Berlin, den 18. Oktober 2006

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion Dr. Peter Struck und Fraktion

Quelle: Deutscher Bundestag Drucksache 16/2996, 18. 10. 2006

Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 12.11.2006

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024