Lebenslanges Lernen

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Nicht den Besten, den Richtigen einstellen

Die fetten Jahre für die Arbeitgeber, die ausbilden, gehen zu Ende. Sie können künftig nicht mehr aus dem Vollen schöpfen und sich aus einer großen Schar von Bewerbern problemlos die vermeintlich Besten herauspicken. Der Nachfragedruck auf Ausbildungsstellen lässt nach und er wird weiter nachlassen. Im Moment ist das noch nicht überall erkennbar, denn es gibt noch viele junge Menschen, die als „Altbewerber“ schon längst in Ausbildung sein sollten, dies aber bei einem zu geringen Ausbildungsangebot nicht schaffen konnten und deshalb weiter suchen. Im letzten Jahr allein über 200.000. In den neuen Ländern gehen die Bewerberzahlen bereits jetzt zurück, in den alten Ländern wird dies ab 2015 zu einem ernsthaften Problem werden.

Aufgrund der komfortablen Lage, in der sich die Anbieter von Ausbildungsstellen bisher befunden haben, sind die Ansprüche nach oben gegangen, viele Betriebe haben sich vorrangig an Schulabschlüssen und Zeugnisnoten orientiert. Die Verlierer waren Hauptschüler/innen und Schulabgänger/innen mit schlechteren Zensuren. Im Ergebnis der „Bestenauslese“, die sich überall breit gemacht hat, münden nur noch 40 Prozent der Hauptschüler in eine Berufsausbildung ein. 15 Prozent aller Jugendlichen bleiben ohne Berufsabschluss.

Wenn die „Demografielücke“ in den kommenden Jahren durchschlägt, werden sich diese Sünden rächen. Woher sollen dann noch die Nachwuchskräfte kommen, die weiterhin auf der Ebene der operativen Fachkräfte gebraucht werden? Insbesondere in den Facharbeiterberufen wird sich die Lage zuspitzen. Facharbeiter aber sind die unersetzliche Basis für den Produktionsstandort Deutschland. Gerade mittelständische Betriebe werden existenzielle Probleme bekommen. Das wird z.B. in Thüringen schon heute diskutiert. Was also an Bildungsgerechtigkeit bisher gemangelt hat, ist eindeutig auch volkswirtschaftlich unvernünftig.

Die Lösung wird nicht durch Zuwanderung kommen, das ist bereits absehbar. Die Lösung kann auch nicht in einem erbitterten Wettbewerb um befähigte Bewerber bestehen, die sich Betriebe gegenseitig abzujagen versuchen. Umso wichtiger, die vorhandenen Potentiale besser auszuschöpfen und vorhandene Fachkräftereserven zu erschließen. Leider ist durch den überzogenen Anspruch einer „Bestenauslese“ der Blick für brachliegende Bildungspotentiale in den letzten Jahren verstellt worden. Dabei geht es vor allem auch um die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wenn selbst die Bertelsmann – Stiftung feststellt, es müssten dreimal soviel Migranten ausgebildet werden wie bisher, um der demografischen Entwicklung gegenzusteuern, dann muss da etwas dran sein. Leider bewegt sich der Anteil dieser Jugendlichen z.B. an den Metall- und Elektroberufen nicht nach vorn. Die Art, wie die Integrationsdebatte derzeit in Deutschland geführt wird, hilft da gar nicht weiter.

Diese Ausgabe von denk-doch-mal thematisiert das Dilemma eines selektiven und segmentierenden Ausbildungsmarktes in Anbetracht der kommenden Personalengpässe und will für Alternativen zur Bestenauslese werben. Die Botschaft heißt – und das ist keine Sozialromantik, sondern lässt sich belegen: Wir verfügen über genügend Möglichkeiten, um aus jedem Jugendlichen, der die Sekundarstufe I verlässt, eine hochwertige Fachkraft zu machen. Dafür benötigen wir kein Übergangssystem, in dem sich derzeit immer noch einige Hunderttausend Jugendliche befinden. Leider gibt es Interessengruppen, die auf den Fortbestand des Übergangssystems setzen und es am liebsten zu einem festen Bestandteil unserer Bildungslandschaft machen wollen. Tatsächlich würden auf diese Weise viele Jugendliche dem Berufsausbildungssystem weiterhin entzogen, und zwar gerade dann, wenn sie dringend als qualifizierter Nachwuchs gebraucht würden. Dass dies nicht passiert, dafür stehen die Beiträge dieser Ausgabe.

Gleich im ersten Artikel von Michael Ehrke und Nadar Djafari wird für einen grundlegenden Strategiewechsel in den Einstell- und Auswahlprozessen der Betriebe plädiert. Es geht nicht um die Besten sondern um die Richtigen. Es ist an der Zeit, sich von solchen Kunstbegriffen wie „mangelnder Ausbildungsreife“ zu lösen, mit denen man in der Ausbildungsstellenkrise versuchte, den Verlierern des Ausbildungsmarktes die Schuld für ihr Schicksal zu geben. Statt mit riesigem Aufwand große Bewerbermengen mit fragwürdigen Mitteln und für teures Geld auszutesten, sollten die Betriebe künftig besser auf gute und nachhaltige Vorfeldarbeit in der Region setzen. So können sie Potentiale finden und Jugendliche interessieren, die letztlich auch mehr Berufstreue aufbauen werden. Dafür gibt es auch erprobte Vorgehensmodelle, wie der Beitrag von Rüdiger Iwan zeigt. Die Portfoliomethode, die er in verschiedenen Berufsorientierungs- und Berufswahlprojekten erprobt hat, ist sowohl in der Pädagogik wie in der AC-Technik für unterschiedliche Berufsfelder wie z.B. in der Medizin bekannt. In der Berufsausbildung wird sie noch recht selten genutzt.

Selbstverständlich sind nicht nur die Betriebe sondern auch die Schulen gefordert. Die Allgemeinbildung, wie sie bisher in Deutschland definiert und kanonisiert ist, ist allerdings keine ideale Vorbereitung auf die Anforderungen, die sich in einer Berufsausbildung stellen. Insofern messen Studien wie PISA und TIMMS Leistungen, die streng genommen keine Prognose über die Ausbildungsfähigkeit von Jugendlichen zulassen. Dies weist Rainer Bremer in seinem Beitrag nach und entwickelt einen Forschungsansatz für berufspädagogisch fundierte Kompetenzmessungen, der sich von dem hierarchisierten deutschen Bildungsbegriff emanzipiert. Er zeigt damit, worauf es eigentlich ankommt, wenn von beruflicher Handlungsfähigkeit die Rede ist.

Nach dem Motto„Alle mitnehmen - niemanden zurücklassen“ sind in den letzten Jahren bereits viele gute Initiativen entstanden. Es geht also nicht darum, Auswege aus der Ausbildungsmisere völlig neu zu erfinden. Wir möchten vielmehr mit einigen Beiträgen auf best practice aufmerksam machen und zeigen, wie gut es gehen kann.


Einige Großunternehmen sind überdies bereits aufgewacht und verändern ihre Nachwuchspolitik. Dazu die Interviews mit dem Personalvorstand der Telekom und mit einem Ausbildungsleiter der Daimler AG. Einige Unternehmen – vor allem der Automobilbranche – haben sich zu einer M+E-Initative zusammengeschlossen, um für einen Perspektivenwechsel im Ausbildungsrecruiting zu werben.

Zwei Beiträge zeigen äußerst erfolgreiche Konzepte der Zusammenarbeit von Schulen und Betrieben, die wir beispielhaft hervorheben wollen. Hinter dem Projekt BONA steht ein Netzwerk von Betrieben und Schulen, wie es seinesgleichen sucht. Hier kam ein regionales commitment zustande, das trägt und über funktionsfähige Strukturen verfügt. Dieses Projekt geht von der Seite der Unternehmen aus und ist in der regionalen Struktur- und Wirtschaftspolitik verankert.

Das Programm „Produktives Lernen“ geht von der Pädagogik aus und versteht sich als Reformansatz für die allgemeinbildende Schule. Die Grundüberlegung ist in der Berufsbildung wohlbekannt: Lernen wird dadurch sinnvoll, dass fachliches Wissen und Können unmittelbare Verwendung in realen Tätigkeitssituationen finden. Bereits 90 Schulen in sechs Bundesländer verfahren nach diesem Modell, also ein sehr erfolgreiches Projekt. Wen wundert es, wenn aus diesen Projekten sagenhafte Vermittlungsquoten in Berufsausbildung gemeldet werden, - auch für Jugendliche, denen man allzu leichtfertig die „Ausbildungsreife“ abgesprochen hat. Natürlich gibt es noch mehr gute Beispiel, insofern sind die beiden Beiträge nur exemplarisch. Auf weitere Projekte mit aktueller Relevanz wird verwiesen.

Wenn sich viele Ausbilderinnen und Ausbilder ebenso wie Betriebsräte von diesen Beiträgen anregen lassen, die Diskussion über ein neues Leitbild der Ausbildung in ihrem betrieblichen Alltag anzuheizen, das da lautet: Alternativen zur Bestenauslese - Potentiale entdecken und entwickeln! – dann hätte diese Ausgabe ihren Zweck erfüllt.


Quelle: denk-doch-mal, 1/2011

Schlagworte zu diesem Beitrag: Ausbildung, Berufliche Weiterbildung
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 09.01.2011

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024