Grundsätzliches zur Weiterbildung

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Berufs-Bildungs-Perspektiven 2008

Solidarität und gemeinsame Verantwortung

Bildungspolitik zwischen falschem Zentralismus und falschem Föderalismus

Mehr Markt macht nicht gebildeter

Die wirtschaftliche Belebung und das statistisch in Aussicht gestellte Gleichgewicht zwischen angebotenen und nachgefragten beruflichen Ausbildungsstellen haben den beunruhigten Eltern und betroffenen Jugendlichen wohl Signale der Entwarnung vermittelt und behutsame Erwartungen ausgelöst. Aber dadurch ist der Horizont der beruflichen Ausbildungslandschaft noch nicht nachhaltig aufgehellt worden. Denn 50 % der Jugendlichen, die eine Lehrstelle suchen, sind Altbewerber. Der durchschnittliche Ausbildungsbeginn liegt derzeit bei 19,3 Jahren, während er in den 1970er Jahren bei 16 Jahren lag. Eine halbe Million Jugendlicher wird in den Übergangssystemen der Berufsvorbereitung, Berufsgrundbildung, freiwilligen Schuljahre und unbezahlten Praktika aufgefangen. Zwischen der ersten Ausbildungsschwelle und der zweiten Beschäftigungsschwelle wuchert ein Parallel-Universum ohne Verbindung mit dem beruflichen Ausbildungssystem.

Die Misere der beruflichen Ausbildung ist Bestandteil der Defizite des deutschen Bildungssystems. Die Menge der Jugendlichen ohne einen Schulabschluss liegt derzeit bei 8 Prozent. Das dreigliedrige Schulsystem wirkt extrem selektiv. Die Schulerfolge und Übergangsquoten von Kindern aus bildungsfernen, armen und sozial ausgeschlossenen Haushalten sind ungleich und zugleich diskriminierend. Kinder aus wohlhabenden Haushalten wechseln von den öffentlichen Schulen in Privatschulen. Eine ganzheitliche Bildung wird auf naturwissenschaftliche, informationelle und wirtschaftlich verwertbare Kenntnisse reduziert. Und wieder einmal wird laut und öffentlich nach einer ehrgeizigen Reform der allgemeinen und beruflichen Bildung gerufen.

Die für die berufliche Bildung politisch Verantwortlichen fühlen sich gedrängt, auf den wachsenden Unwillen von Eltern, Jugendlichen und Kindern, nachdem dieser sogar die Ergebnisse von Wahlen beeinflusst, zu reagieren. Die Reaktion der politischen Klasse folgt indessen zwei paradoxen Tendenzen.


1. Paradoxe Tendenzen

Die politische Zuständigkeit für die berufliche Bildung, für deren Lernorte Schule und Betrieb sowie der dort vermittelten Lerninhalte liegt jeweils beim Bund oder den Sozialpartnern oder den Ländern. Dieses kooperative nationale Engagement wird in zweifacher Richtung gesprengt. Zum einen ist in den Verhandlungen zur Föderalismusreform II eine Tendenz festzustellen, den Bund von der Verantwortung für die berufliche Bildung zu entlasten und diese auf die Länder und deren bildungspolitische Zuständigkeit zu verlagern. Zum anderen ist die Tendenz augenfällig, dass den supranationalen Organen der Europäischen Union mehr koordinierende Zuständigkeiten für die berufliche Bildung zugestanden werden.

Paradox erscheint die föderale Dimension der Verlagerung von Zuständigkeiten der beruflichen Bildung, weil zum einen seit mehr als einem Vierteljahrhundert im wirtschaftlichen und sozialen Bereich die Differenzierung oder gar Polarisierung von Lebenschancen in Deutschland zunimmt und damit das Verfassungsgebot gleichwertiger Lebensverhältnisse zunehmend außer Kraft gesetzt wird. Zum anderen wirkt angesichts der wachsenden wirtschaftlichen und unternehmerischen Verflechtung in Deutschland und Europa die Tendenz wiederkehrender Kleinstaaterei im Bereich der beruflichen Bildung anachronistisch. Die komplizierte Abstimmung der Lernorte und Lerninhalte wird durch eine solche föderale Ausdifferenzierung nicht gerade erleichtert. Diese soll durch ein finanzpolitisch fragwürdiges Regime noch zugespitzt werden, über das in den Verhandlungen um die Föderalismusreform II diskutiert wird, wonach den wirtschaftlich schwächeren Ländern Verschuldungsobergrenzen analog den so genannten Maastricht-Kriterien aufzuerlegen sind. Solche Regeln hätten dramatisch negative Folgen für die Bildungsausgaben der betroffenen Länder und würden den nationalen Bildungsraum zusätzlich fragmentieren. (vgl. dazu den Beitrag zur Föderalismusreform II)

Eine gegenläufige und ebenfalls paradoxe Tendenz ist in der auf der europäischen Ebene verankerten Methode der offenen Koordination für die berufliche Bildung zu beobachten. Als Bezugsgrößen nationaler Berufsbildungspolitik sind ein Europäischer Qualifikationsrahmen (EQR) und ein Europäisches Kreditpunktesystem (ECVET) entworfen worden. Deren elementare Stellgrößen sind schmale ergebnis- und kontextbezogene Kompetenzprofile („units”), die Kenntnisse, Fertigkeiten und Verhaltenspotentiale bündeln sowie kurze, überschaubare Lernprozesse („Module”). Eine solche doppelte Zerlegung von Qualifikationen in Basiseinheiten und von Ausbildungsgängen in Module soll dazu beitragen, dass die Besonderheiten der beruflichen Bildung in den einzelnen europäischen Ländern transparent, die vorhandenen Barrieren zwischen den Systemen durchlässig und die Qualifikationen, Lernprozesse und Bildungssysteme der Länder vergleichbar sowie einer einheitlichen Bewertung zugänglich werden.

Gleichzeitig sollen die Auszubildenden und die qualifizierten Arbeitskräfte transnational mobiler, die Ausbildungswege individuell ausdifferenziert und die Vertragsbeziehungen zwischen den Anbietern von Bildungsgütern und den Nachfragenden erleichtert werden. Die Fragmentierung und Modularisierung der Inhalte und Prozesse der beruflichen Bildung in Europa wird indessen auch von einem Bündel wirtschaftlicher Interessen angetrieben. Die Unternehmen wollen die menschliche Arbeitskraft optimal verwerten. Ein einheitlicher europäischer Bildungsmarkt soll den privaten Anbietern von Bildungsgütern beispiellose Wachstumschancen erschließen. Allerdings besteht die Gefahr, dass ein verbindlicher europäischer Qualifikationsrahmen mit einem entsprechenden Kreditpunktesystem das deutsche Berufsbildungssystem erheblich unter Druck setzt oder gar verdrängt. Denn dieses zeichnet sich durch breite komplexe Qualifikationen, eine berufsorientierte Integration theoretischer und praktischer Lernorte, eine gesellschaftliche Verantwortung der beruflichen Bildung und die relative Autonomie derer aus, die eine berufliche Ausbildung annehmen. (vgl. dazu den Beitrag zum europäischen und deutschen Qualifikationsrahmen).

Hinter diesen paradoxen, weil gleichzeitig föderal und europäisch ausgerichteten Tendenzen sind ähnliche politische Absichten erkennbar: auf der europäischen Ebene die Zerlegung integrierter Bildungsprozesse in kleine Einheiten, differenzierte Bildungsangebote, zwischen denen Individuen auswählen, und ein transnationaler Bildungsmarkt mit privaten Akteuren; auf der Länderebene die Zerlegung von Zuständigkeiten, föderaler Wettbewerb und berufliche Bildung nach Haushaltslage. Das Profil dieser Tendenzen lässt sich schärfer konturieren, indem diese zwei rivalisierenden Steuerungsformen zugeordnet werden, die für die berufliche Bildung werbend empfohlen werden bzw. bisher in Geltung sind.


2. Rivalisierende Steuerungsformen

„Mehr Markt“ im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und in der öffentlichen Verwaltung! Mit solchen Parolen werben marktradikale, wirtschaftliberale Experten für bessere Leistungen, zufriedene Kunden und höhere Effizienz in öffentlichen Einrichtungen und bei der Bereitstellung öffentlicher Güter. Gleichzeitig attackieren sie die solidarischen Sicherungssysteme und auch die solidarisch gesteuerte berufliche Bildung. Die Marktsteuerung, so heißt es, sei ein wirksames Mittel, um das Angebot beruflicher Bildung zu erweitern, das persönliche Interesse an ihr zu wecken, und ihre Verbreitung zu steigern. Dem gegenüber sei das solidarische System der beruflichen Bildung ineffizient und untergrabe die Eigenverantwortung.

2.1 Die Marktsteuerung

Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus scheint die kapitalistische Marktwirtschaft aus dem Systemwettbewerb als Sieger hervorgegangen zu sein. Obwohl noch nicht entschieden ist, ob sie Recht hat, wird sie den Transformationsländern und den Entwicklungsländern als alternativlos empfohlen. Auch auf das System der beruflichen Bildung übt sie vordergründig eine hohe Anziehungskraft aus.

Zauber des Marktes


Die Verfechter der Marktsteuerung behaupten, dass moderne Gesellschaften um das individuelle Subjekt als ihren Mittelpunkt konstruiert seien. Das Individuum habe sich immer mehr von den Bindungen der Klasse, der Familie und des Milieus gelöst und beanspruche für sich das Recht, autonom seinem Lebensentwurf zu folgen sowie sich jene Güter anzueignen, die diesem Ziel dienen. Aufgeklärte und aufgeweckte junge Erwachsene seien heutzutage mit dem „wirtschaftlichem“ Denken voll vertraut, das darin besteht, vernünftig mit knappen Mitteln umzugehen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie würden dem wohl informierten, rational denkenden Menschen, dem sprichwörtlichen „homo oeconomicus“ gleichen. Dieser strebe die Befriedigung eines Bündels von Bedürfnissen an, die gemäß den persönlichen Vorlieben, dem Charakter, den vorhandenen Talenten und Energien oder dem Alter auf einer Rangskala aufgereiht sind. Da die materiellen Bedürfnisse weitgehend befriedigt sind, rücke das vitale Bedürfnis, mehr zu wissen und sich zu bilden, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Hunger nach Bildung sei dem Hunger nach Nahrung vergleichbar.

Die Vertreter der Marktsteuerung sind auch davon überzeugt, dass wirtschaftlich denkende Individuen nüchtern die Kosten des Gutes „berufliche Bildung“ mit dem Nutzen vergleichen, den es ihnen stiftet, wenn sie einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz suchen. Sie würden autonom bestimmen, welchen Anteil ihres Einkommens sie für Nahrungsmittel, Industriewaren und für Bildungsgüter ausgeben. Aus der Eigenschaft von Bildungsgütern, subjektiven Erwartungen zu unterliegen, die sich auf einen längeren Zeitraum beziehen, folge ja nicht, dass vernünftig denkende Menschen solche Erwartungswerte nicht kalkulieren und ihrer individuellen Nutzen/Kosten-Rechnung unterziehen können. Die Risiken einer profitablen Verwendung der erworbenen beruflichen Bildung seien ähnlich einzuschätzen wie die Risiken, einen Autounfall zu erleiden, das in Aktien angelegte Vermögen zu verlieren oder das eigene Haus in Flammen aufgehen zu sehen. Berufliche Bildung sei ein Gut wie viele andere, sagt man.

Eine vergleichbare Rechnung, so die Meinung der radikalen Marktwirtschaftler, stelle der einzelne Unternehmer an. Er frage eine Arbeitskraft nur dann nach, wenn die Kosten eines zusätzlich eingestellten Arbeiters unter dem Wert des Grenzprodukts seiner Arbeitsleistung liegen. Gemäß dieser Grenzproduktivitätsregel würden die Chancen einer Arbeiterin oder eines Arbeiters, eine sichere und angemessen entlohnte Beschäftigung zu finden in dem Ausmaß steigen, wie sie über ein profitabel verwertbares Wissen oder über Qualifikationen verfügen, die vom Unternehmer nachgefragt werden. Die Gleichzeitigkeit einer hohen Sockelarbeitslosigkeit und eines partiellen Facharbeitermangels belege genau diesen Zusammenhang: Während unter den Langzeitarbeitslosen der Anteil der Geringqualifizierten überdurchschnittlich hoch ist, würden Wissensarbeiter dringend gesucht.

Die Zauberformel des Marktes scheint einige Ökonomen dermaßen zu faszinieren, dass sie die Marktsteuerung und die betriebswirtschaftliche Kalkulation auf alle gesellschaftlichen und staatlichen Bildungseinrichtungen übertragen möchten. Auf so genannten Bildungsmärkten könnten private Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Akademien und sonstige Akteure als Anbieter auftreten und um diejenigen Kunden werben, die Bildungsgüter nachfragen. Sie sollten sich durch ein unverwechselbares Profil voneinander abgrenzen, sich spezialisieren und eine zusätzliche private kaufkräftige Nachfrage erschließen. Die erforderlichen Finanzmittel müssten sie sich durch Stiftungen, Sponsoren und Patenschaften privat beschaffen, weil öffentliche Finanzmittel in Zukunft weniger zur Verfügung stehen. Der Druck des Wettbewerbs würde schlummernde Effizienzreserven ausschöpfen, die von einem verkrusteten staatlichen Berufsbildungssystem so nicht mobilisiert werden.

Die Marktsteuerung und der Wettbewerb könnten, so heißt es, auch die internen Beziehungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen positiv verändern. Eine streng betriebswirtschaftliche Kalkulation würde die Akteure dazu veranlassen, weit gefasste Ausbildungsziele auf überschaubare Zeitabschnitte herunter zu brechen und in überprüfbare kleinste Einheiten zu zerlegen. Exakt definierten Lernergebnissen und präzisen Lernschritten würden Kostenträger detailliert und direkt zugeordnet. Einheitliche Bildungsstandards könnten die Erwartungen der Anbieter und Nachfragenden aufeinander abstimmen und die Vorgehensweise des Personals durchsichtig und deren Bewertungen nachvollziehbar machen, ohne dass die Besonderheiten des Einzelfalls übersehen werden. Die bürokratische Administration würde von einem unternehmerischen Führungsstil abgelöst. Behäbige Verwaltungsbeamte räumten ihre Sessel für dynamische Manager.

Marktkritik


Wer den Zauber der Marktsteuerung zu entkräften versucht, kann darauf verweisen, dass eine monetäre Steuerung von Lernprozessen mit dem beruflichen Ethos der Bildungsträger und ihrem Verantwortungsbewusstsein für das Lernergebnis möglicher Weise kollidiert. Die kommerzielle Anpassung der Lernergebnisse an Kundenwünsche riskiert, dass deren Folgekosten auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auf unbeteiligte Dritte oder auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, wie dies in der privaten Wirtschaft üblich ist, wenn die Rationalität einer Senkung der Kosten darin besteht, diese möglichst umfangreich auf andere zu verlagern. Der Leistungswettbewerb der Bildungsträger kann zu einem Rattenrennen um mehr oder weniger profitable Bildungsangebote entarten. Die Markt- und Wettbewerbseuphorie blendet leicht die Tatsache aus, dass weder die Träger der beruflichen Bildung homogene Waren anbieten noch die Lernenden austauschbare Kunden mit gleichen Ressourcen sind. Offensichtlich taugt die Mikrosteuerung von Anbietern und Nachfragenden nur begrenzt, um die Bevölkerung optimal mit Bildungsgütern auszustatten und deren Lebensqualität zu verbessern, die angestrebten Bildungsziele zu erreichen und ein breites Interesse an Bildungsgütern zu wecken. Der Gegensatz zwischen dem, was für den einzelnen Bildungsträger vorteilhaft ist, und dem gesellschaftlichen Interesse kann durch den Markt ebenso wenig beseitigt werden, wie Markt und Wettbewerb allein für die Bereitstellung öffentlicher Bildungsgüter taugen.

Das Wissen darum, dass wirtschaftliches, vernunftgemäßes Handeln eine allgemeine gesellschaftliche Tatsache ist, wird von kompetenten Trägern der beruflichen Bildung nicht bestritten. Typische Lernschritte lassen sich sinnvoll von typischen Lernzielen her strukturieren. Nicht jede zu behandelnde Lerneinheit ist derart einzigartig, dass Verfahren und Ergebnisse nicht miteinander vergleichbar wären und standardisiertes Wissen für den Umgang mit Lernwilligen nicht abgerufen werden könnte. Aber mit dieser Feststellung ist noch nicht gewährleistet, dass Bildungsprogramme, die ausschließlich einer betriebswirtschaftlichen Rationalität folgen, die pädagogische und fachliche Kompetenz der Bildungsträger respektieren.

Die spezifische Qualität personennaher Dienste lässt sich weder unter Zeitdruck und Stress noch mit unterdurchschnittlicher Entlohnung gewinnen, wie derzeit in Erziehungseinrichtungen, Schulen und beruflichen Bildungsstätten zu beobachten ist. Qualifiziertes Arbeitsvermögen der Bildungsträger, das kultiviert und veredelt werden sollte, wird so entwertet. Sobald im Verlauf der kommerziellen Umstellung qualifizierte Arbeitskräfte innerlich emigrieren oder dem pädagogischen Dienst entfliehen, ist es an der Zeit, das System der betriebswirtschaftlichen Steuerung selbst einer Kosten/Nutzen-Analyse zu unterwerfen.

Der Qualitätsmaßstab einer Arbeit am bildungswilligen Menschen folgt anderen Kriterien, als sie sich in der Industrie bewährt haben. Eine den personennahen Diensten angemessene Qualitätssicherung sollte sich folglich weniger an der Produktivität des „Zählens, Wiegens und Messens“ orientieren, sondern an den humanen und kommunikativen Kompetenzen des „Heilens, Beratens, Helfens, Aufrichtens und Begleitens“. Eine solche Qualität kann weder extern abgelesen noch intern von oben normiert, sondern nur kreativ erarbeitet und gewonnen werden, indem das Arbeitsteam selbst bei der Festlegung von Qualitätskriterien aktiv beteiligt ist.

Diejenigen, die mehr Markt und Wettbewerb im beruflichen Bildungswesen propagieren, sollten bedenken, dass das Spielfeld der angeblichen Bildungsmärkte hochgradig politisch besetzt ist, selbst wenn die beteiligten Akteure sich verstärkt auf ein Spiel, das dem Markt nachgebildet ist, einlassen möchten. Denn alle Spielzüge und Reaktionen individueller und kollektiver Akteure bleiben vorerst und vermutlich dauerhaft sehr stark in den politischen Horizont beruflicher Bildung eingebettet. Nur um den Preis einer mikroökonomischen Blickverengung lassen sich betriebs- und einzelwirtschaftliche Methoden auf Bundesländer anwenden.

Dabei wird eine gesamtwirtschaftliche und erst recht eine gesellschaftliche Perspektive ausgeblendet. Ein solches Verfahren hat drei schädliche Folgewirkungen. Zum einen täuschen singuläre ökonomische Kennziffern die Exaktheit eines Ländervergleichs vor, der überhaupt nur solange aussagefähig ist, als vergessen wird, wie bei jedem Vergleich die Unähnlichkeit der Gegenstände, die verglichen werden, größer ist als deren Ähnlichkeit. Zum andern sind die Vergleiche kommerzieller Kennziffern, die jene Ertrags- und Aufwandskomponenten abbilden sollen, die ein Bundesland fiskalisch entlasten und ein anderes belasten, angesichts der wirtschaftlichen Verflechtungen eine bloße Scheinrechnung und, falls die sozial, kulturell und politisch geprägten Lebensstile der jeweiligen Bevölkerung nicht einbezogen werden, ein inhaltsleerer und unsinniger Maßstab. Schließlich widersprechen derartige Rechnungen sowie die daraus abgeleiteten finanzpolitischen Belohnungen und Sanktionen jener im Grundgesetz formulierten Norm, die der politischen Klasse das Mandat erteilt hat, gleichwertige Lebensverhältnisse und damit gleichwertige Chancen beruflicher Bildung für alle Kinder und Jugendlichen im Bundesgebiet herzustellen.

2.2 Die Steuerungsform der Solidarität

Der Mythos einer effizienten Marktsteuerung, der seit mehr als 25 Jahren die öffentliche Meinung der westlichen Länder beherrscht, hat die Verteidiger der Solidarität als einer Steuerungsform, die gesellschaftliche Risiken abfedert, ins Abseits gedrängt. Allmählich erst wächst wieder das Bewusstsein, dass Märkte nur so lange funktionsfähig sind, als sie in eine Steuerungsform der Solidarität „eingebettet“ bleiben.

Charme der Solidarität


Solidarität wird meist mit der persönlichen Tugend gleich gesetzt, die sich als Sympathie, Barmherzigkeit und Mitleid gegenüber dem benachteiligten Nächsten äußert. Im folgenden ist Solidarität eine Kooperationsregel bzw. Steuerungsform, die der Abwehr gesellschaftlicher Risiken dient. Zwei Arten von Risiken sind grundsätzlich zu unterscheiden: Risiken, die dem Handeln von Individuen als ihrer unmittelbaren und direkten Ursache zugerechnet werden können. Und Risiken, die durch gesellschaftliche Verhältnisse bedingt oder verursacht sind. Während es angemessen ist, individuelle Risiken durch eine private Vorsorge abzusichern, entspricht den gesellschaftlichen Risiken eine solidarische Sicherung. Bildungsferne und Bildungsarmut sind offenkundig zu einem erheblichen Anteil den gesellschaftlichen Risiken zuzuordnen. Sie sind auf gesellschaftliche Verhältnisse und nicht in erster Linie auf ein fahrlässiges Handeln von Individuen zurückzuführen. Für die Klassenabhängigkeit der Bildungschancen liefert die geschlossene Schicht der Bildungseliten in Deutschland ein beredtes Zeugnis. Die Wahrscheinlichkeit, ein Hochschulstudium zu beginnen bzw. eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen, ist für ein Akademikerkind immer noch siebenmal bzw. dreimal so hoch wie für ein Arbeiterkind.

Die Grenze zwischen gesellschaftlichen und privaten Risiken kann ebenso wenig trennscharf gezogen werden, wie die gesellschaftliche Option für eine solidarische Risikoabwehr an Stelle einer privaten Vorsorge objektiv zwingend ist. Denn zum einen ist eine private Vorsorge für wohlhabende Haushalte durchaus tragbar, nicht jedoch für den großen Teil derer, die arbeitslos, arm, krank oder pflegebedürftig sind und nicht über ein Einkommen verfügen, aus dem die private Vorsorge finanziert werden könnte. Zum andern neigen demokratische Gesellschaften dazu, die Grenzen zwischen persönlichen Schwächen, psychosomatischen Beeinträchtigungen und Behinderungen einerseits und gesellschaftlichen Diskriminierungen anderseits flexibel zu ziehen. Und außerdem neigen sie angesichts dieser fließenden Grenzen zu einer nachsichtigen Vorgehensweise, scheinbar individuelle Risiken im Zweifelsfall den gesellschaftlichen Risiken zuzuordnen und solidarisch abzusichern.

„Solidarität“ ist eine Entdeckung der Arbeiterbewegung. Sie ist jedoch im Lauf der Zeit zu einer gesellschaftlichen Steuerungsform aufgestiegen, vergleichbar der Liebe in der Partnerschaft, dem Geld in der Wirtschaft oder der Macht in der politischen Sphäre. Sie ist dadurch besonders gekennzeichnet, dass eine abgrenzbare Gruppe von Menschen eine gemeinsame Grundlage ihres Handelns – etwa der Klasse, des Geschlechts, der Sprache, Kultur oder Geschichte – anerkennt, die sie
verbindet. Trotz dieser gemeinsamen Bindung sind die einzelnen Gruppenmitglieder von den großen Lebensrisiken sehr unterschiedlich betroffen. Aber diese Differenzen werden als geringer gewichtet als die gemeinsame Grundlage. So kommt es zu einer rechtsverbindlichen, vertraglichen Vereinbarung, die auf einer asymmetrischen Gegenseitigkeit beruht, dass nämlich die Solidaritätsbeiträge gemäß der individuellen Leistungsfähigkeit (dem erzielten Einkommen oder vorhandenen Vermögen) entrichtet werden, die Solidaritätsansprüche jedoch gemäß der individuellen Notlage (und nicht der vorhandenen Kaufkraft). Die Pflichten entsprechen dem Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit, die Rechtsansprüche dem Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit.

Stellt man die Merkmale einer solchen Solidarität der Marktsteuerung gegenüber, wird deutlich, worin beide übereinstimmen und worin sie voneinander abweichen. Sowohl die Marktsteuerung als auch die Solidarität regeln einen Interessenkonflikt. Der Markt tut dies anonym, die Solidarität in überschaubaren oder in abgegrenzten Einheiten. Der Markt ist nicht exklusiv, solange die Tauschpartner angemessen mit Kaufkraft oder Leistungsvermögen ausgestattet sind. Die Steuerungsform der Solidarität wirkt innerhalb eindeutig identifizierbarer und streng gezogener Grenzen.

Nur diejenigen, die sich auf Grund eines gemeinsamen Merkmals als grundlegend gleich begreifen, erkennen eine solidarische Verpflichtung an. Solche Merkmale sind keine rein objektive Tatsache, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt. Nur wenn sich Menschen als miteinander verbunden deuten und fühlen, kann die Solidarität als gesellschaftliche Steuerungsform wirksam sein. Gegenseitigkeit gibt es in der Steuerungsform des Marktes ebenso wie in der Steuerungsform der Solidarität. Auf dem Markt herrscht eine strenge Gegenseitigkeit zum gleichen Zeitpunkt oder in einem eindeutig abgesteckten Zeitraum. Bei der Solidarität ist die Gegenseitigkeit durch einen Erwartungswert verbunden, der weit in die Zukunft hineinreicht. Dieser ist sehr subjektiv mit überwiegend skeptischen Erwartungen eingefärbt, dass die Armut, Bildungsferne und Ausgrenzung, die ich bei meinem Nachbarn erblicke, auch mich in Zukunft treffen werden. Aus einer solchen Einschätzung ergibt sich die für die Solidarität typische „asymmetrische“ Gegenseitigkeit, wozu die Marktsteuerung nicht in der Lage ist, die streng dem Äquivalenzgrundsatz folgt.

Diffamierte Solidarität


In den vergangenen 25 Jahren haben bürgerliche Kampagnen die solidarischen Sicherungssysteme in Deutschland systematisch verdächtigt, dass sie zu teuer, auf Dauer nicht finanzierbar und überhaupt fehlgeleitet seien. Dem System der beruflichen Bildung gilt der gleiche Vorbehalt.

Die „Globalisierung“ wird in der Öffentlichkeit regelmäßig als Kampfformel eingesetzt, um die Klage zu begründen, dass die Kosten der solidarischen Sicherungen und auch der beruflichen Bildung die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten lähmen würden. Nun steht die deutsche Wirtschaft nicht unter einem bedrohlichen Globalisierungsdruck. Sie ist nicht Opfer, sondern selbst treibender Motor der Globalisierung, sonst gäbe es nicht den strukturellen anhaltenden Exportüberschuss, der zu zwei Drittel mit anderen westeuropäischen Ländern abgewickelt wird.

Die demografische Entwicklung und das angeblich riskante Zahlenverhältnis von Erwerbspersonen und Rentnern gilt Kritikern der umlagefinanzierten solidarischen Sicherungssysteme als ein Argument dafür, dass die Erwerbstätigen sich schon bald weigern würden, noch höhere Sozialbeiträge, die zur solidarischen Finanzierung erforderlich sind, zu entrichten. Darauf zu vertrauen, dass der Sozialstaat die Defizite der zerbrechenden Sicherungssysteme auffängt und weiterhin öffentliche Bildungsgüter bereitstellt, sei angesichts der hoch verschuldeten öffentlichen Haushalte fahrlässig. Wenn beispielsweise die gesetzliche Rente selbst nach dreißig Versicherungsjahren auf das Niveau des Existenzminimums absinkt, sei eine private Vorsorge gegen die Lebensrisiken ebenso wenig vermeidbar wie eine private Finanzierung des Erwerbs von Bildungsgütern.

Solchen Argumenten kann entgegen gehalten werden, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht in erster Linie von der biologischen Zusammensetzung der Bevölkerung abhängt, sondern von ihren Wachstumserwartungen, dem Beschäftigungsgrad und der Produktivität der Erwerbstätigen. Und das Kapitaldeckungsverfahren ist nicht weniger anfällig für Veränderungen der Erwerbstätigenstruktur als das Umlageverfahren, wie die in regelmäßigen Abständen auftretenden Banken-, Währungs- und Finanzkrisen belegen.

Kritiker der solidarischen Sicherung beklagen, dass sie die persönliche Zuwendung, die den Armen und Hilfebedürftigen fehlt, selbst nicht leisten könne. Sie sei zu einem bürokratischen Monster entartet und habe die früher vorhandene familiäre und nachbarschaftliche Solidarität ausgehöhlt. Sie habe die Eigenverantwortung gelähmt, die Individuen an eine öffentliche Rundumversorgung gewöhnt und ihnen die Fähigkeit geraubt, sich selbst zu organisieren und sich den Lebensrisiken zu stellen. Das verwegene Vertrauen auf die Solidarität der Starken mit den Schwachen habe am Ende dazu geführt, dass Individuen nicht nur in strukturelle Solidaritätsfallen gestolpert sind, sondern sich selbst fahrlässig als Trittbrettfahrer solidarischer Ausgleichssysteme betätigt haben. Sie hätten auch die öffentlichen Bildungsangebote bewusst und ohne Not missbraucht. Aber nicht nur Individuen seien durch falsche Anreize fehlgelenkt worden, sondern auch berufliche Bildungseinrichtungen, kommunale Selbstverwaltungen und Bundesländer hätten sich in der Hängematte des föderalen Finanzausgleichs bequem eingerichtet und darin ausgeruht, während sie auf die Solidarität der leistungsstarken Länder vertrauten.

Wenn deren Haushalte jetzt nicht mehr über die Finanzmittel verfügen, um Sozialleistungen, öffentliche Bildungsgüter und Finanztransfers in andere Länder im bisherigen Ausmaß bereit zu stellen, müssten die Bürger ihre überzogenen Erwartungen an den Sozialstaat bzw. leistungsschwache Länder ihre Ansprüche an den Finanzausgleich zurücknehmen. Folglich seien positive Anreize gefragt, damit die Eigeninitiative geweckt, das Selbstvertrauen zurück gewonnen und die erforderlichen Bildungsgüter aus eigener Kraft erworben werden.

Nun hat die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder bereits systemsprengende Einschnitte in die solidarischen Sicherungssysteme vorgenommen. Sie hat damit das Niveau von Versicherungsleistungen, die beim Eintreten gesellschaftlicher Risiken den erarbeiteten Lebensstandard aufrechterhalten sollten, tendenziell auf das Niveau bloßer Fürsorgeleistungen abgesenkt. Seitdem ist das Vertrauen der Bevölkerung in die gesetzlichen Sicherungssysteme massiv gesunken. Die Regierung rief, während sie die Solidarität politisch deformierte, zur privaten kapitalgedeckten Risikovorsorge auf. Gleichzeitig traten Finanzinvestoren auf den Plan, um die Ersparnisse der Bürgerinnen und Bürger zu sammeln und rentabel – teils risikobewusst teils hoch spekulativ – auf den globalen Finanzmärkten anzulegen.

Das berechtigte Misstrauen gegen die Bildungsversprechen des Staates ließ dann auch denjenigen, die berufliche Bildungs- und Weiterbildungsangebote nachfragten, keine andere Wahl, als auf private finanzielle Ressourcen zurückzugreifen. Damit hat sich jedoch noch nicht die Frage erübrigt, ob das faktische Handeln des Staates auch gerechtfertigt ist.


3. Gerechtigkeitsgrundsätze

Welche Steuerungsform für welche Teilsphäre moderner Gesellschaften vorteilhaft oder schädlich ist, lässt sich nicht wertfrei, ohne Bezug zu normativen Überzeugungen entscheiden. Der Grundsatz der Gerechtigkeit ist eine Grundnorm der politischen Ordnung und wird auch für die normative Orientierung der beruflichen Bildung in Anspruch genommen. Aber welche Gerechtigkeit gilt als vorzugswürdig? Ist das plakative Kürzel: „Jedem das Seine“ bereits eine hinreichende Antwort, wenn normative Grundsätze sich jeweils nur bezüglich einer konkreten Situation formulieren lassen?

Dieser Bezug auf eine konkrete Situation kann in zweifacher Weise erfolgen – als Gebot der Anpassung an die Situation oder als Option eines kreativen Gegenentwurfs im Widerspruch zur Situation. Demgemäß konkurrieren zwei Gerechtigkeitsgrundsätze miteinander, die Tauschgerechtigkeit, die der Marktsteuerung entspricht, und die Beteiligungsgerechtigkeit, die für demokratische Gesellschaften grundlegend ist.

Tausch- oder Marktgerechtigkeit


Die marktradikalen, wirtschaftsliberalen Kritiker der Solidarität bemühen sich, den Grundsatz der Gerechtigkeit im Sinn einer Markt- bzw. Tauschgerechtigkeit zu definieren. Vertreter der so genannten Volksparteien hatten zu Beginn des Jahrhunderts an die Bevölkerung appelliert, sich von der Verteilungsgerechtigkeit zu verabschieden, weil diese den globalen und demografischen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sei. Der neue Name für Gerechtigkeit laute ihrer Meinung nach: „Chancengerechtigkeit“ im Hinblick auf einen allgemeinen und gleichen Zugang zu Bildungsgütern, weil diese die Voraussetzung für die Einbindung in die Erwerbsarbeit und damit für die gesellschaftliche Beteiligung bilden würden.

Der Staat habe bloß die Aufgabe, eine klare Startlinie zu ziehen, von der aus alle ihre Bildungslaufbahn ungehindert beginnen und vollenden. Persönliche Behinderungen und gesellschaftliche Benachteiligungen solle er während des Laufens nicht korrigieren. Denn die Individuen verfügten über verschiedene Talente und Energien. Mit deren Hilfe würden sie unterschiedliche Leistungen hervorbringen, die ihnen persönlich zu eigen sind. Eine Gesellschaft müsse die Mobilisierung differenzierter Talente und Energien auch differenziert belohnen. Folglich seien ungleiche Einkommen und Vermögen ein individuelles Verdienst und auch gesellschaftlich verdienstvoll.

Je stärker sie differieren, umso mehr würden sie auch die Tatsache spiegeln, wie sehr die Gesellschaft monetär anerkennt, dass die Individuen ihre Talente und Energien eigenständig aktiviert haben. Ohne diese monetäre Anerkennung fehlten die Anreize zur Aktivierung individueller Potentiale. Ähnlich würden diejenigen Länder, die sich erfolgreich angestrengt haben, die eigenen Ressourcen zu mobilisieren, und deshalb überdurchschnittliche Leistungen aufweisen, einen finanziellen Vorteil verdienen, der jedoch Ländern, die solchen Anstrengungen ausgewichen sind, versagt bleiben müsse. Die Leistungsgerechtigkeit, die einer strengen Äquivalenz dessen entspricht, was im Tausch der eine Partner bietet und der andere fordert, habe demnach Vorrang vor der Bedarfsgerechtigkeit. Gegenüber der Verteilung von Gütern sei der Austausch von Leistungen die fundamentale Form zwischenmenschlicher Beziehungen, erklärt ein angesehener Sozialphilosoph.

Parallel zur Deutung der „Gerechtigkeit als Tausch“ verbiegen die Verfechter der Marktgerechtigkeit den Grundsatz der Solidarität zu einer strengen Gegenseitigkeit. Die Solidarität sei keine Einbahnstraße, heißt es. Die Hilfeleistung, die von den Reichen, Starken und Gebildeten eingeklagt wird, damit die Armen, Schwachen und Ungebildeten davor bewahrt bleiben, von den gesellschaftlichen Gütern ausgeschlossen zu werden, dürfe nicht zum Nulltarif gewährt werden. Sie setze vielmehr eine Eigenleistung der Hilfebedürftigen voraus, besser: eine Gegenoder Vorleistung, um zuerst den Beweis zu erbringen, dass sie der aktivierenden Hilfe des Staates oder der Gesellschaft würdig sind. Niemand habe das Recht, Leistungsansprüche an die Gesellschaft und den Staat zu richten, der nicht zu einer Vorleistung von Eigeninitiative und Selbstbeteiligung bereit ist. Ähnlich seien finanzschwache Länder zu Vorleistungen verpflichtet, bevor sie die Hilfe der finanzstarken Länder in Anspruch nehmen dürften. Die Verpflichtung zur Eigenverantwortung hat gemäß diesem Verständnis von Solidarität Vorrang vor dem Rechtsanspruch auf einen Beistand der Gesellschaft.

Gleiche Gerechtigkeit


Während der Grundsatz der Tausch- oder Marktgerechtigkeit vorwiegend der Absicht marktradikaler, wirtschaftsliberaler Ökonomen entspricht, die faktische Situation ungleicher Lebenslagen und Bildungschancen normativ anzuerkennen, besteht eine alternative normative Position in einer kritischen Deutung und kreativen Aneignung dieser Situation. An Stelle einer im Namen der Tauschgerechtigkeit gebotenen Anpassung an die Lage wird der Grundsatz der Gerechtigkeit zum einen im Kontrast zu einer Situation formuliert, die von wachsender vertikaler Ungleichheit bestimmt ist, da die Schere der Einkommen und Vermögen sowie der Lebens- und Bildungschancen von Menschen, die in Deutschland wohnen, zunehmend auseinanderklafft.

Zum andern wird er im Horizont der Proklamation gleicher Menschenrechte formuliert – nicht gemäß ihrer historischen Reihenfolge, sondern gemäß ihrer demokratischen Rangfolge. Deshalb steht das gleiche Recht auf aktive Beteiligung an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen an erster Stelle. Um diese zu gewährleisten, sind wirtschaftliche, soziale und kulturelle Anspruchsrechte auf gleiche Lebens- und Bildungschancen die notwendige Bedingung. Folglich wird die Gerechtigkeit zuerst als eine Gleichheitsvermutung formuliert.

Der Begriff der Gleichheit indiziert nicht Identität, sondern die qualitative Übereinstimmung von Subjekten und Sachverhalten in einem präzise definierten Merkmal. Zwei Personen sind gleich etwa hinsichtlich ihres musischen Talents oder ihrer technischen Begabung oder der Herkunft aus einer Region. Diese verhältnismäßige Gleichheit drückt sich aus in den programmatischen Formeln: „Gleiches soll gleich, Ungleiches soll ungleich behandelt werden“ oder: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.

In der antiken oder mittelalterlichen, feudal gegliederten Gesellschaft wurde den Individuen „das Gleiche“, das ihnen zukommt, im Verhältnis zu ihren Talenten, Verdiensten, Funktionen und Positionen innerhalb einer wohlgeordneten Stadt oder Gesellschaft zugeteilt. Seit der Neuzeit gilt indessen die kopernikanische Wende in der Bestimmung verhältnismäßiger Gleichheit: Das Gleiche wird nun im Verhältnis zu sich selbst definiert, im Selbstverhältnis des individuellen, autonomen Subjekts und seiner Absicht, sich als Person zu verwirklichen und darin eine eigenständige Identität zu finden.

Diese moralische Gleichheit besagt, dass jede Person einen moralischen Anspruch darauf hat, mit der gleichen Rücksicht und Achtung behandelt zu werden wie jede andere. Sie ist von einem Standpunkt der Unparteilichkeit und der Allgemeinheit als autonomes Lebewesen anzuerkennen und als Gleiche – nicht gleich – zu behandeln und in ihrer Würde zu achten. Der Grundsatz moralischer Gleichheit ist zugleich eine Verfahrensregel zur Bestimmung dessen, was in einer ausdifferenzierten Gesellschaft gerecht ist. Eine solche Regel enthält das Recht auf Rechtfertigung gesellschaftlicher Verhältnisse insbesondere gegenüber jenen, die am schlechtesten gestellt sind. Ihnen sollte eine Art „Vetorecht“ bei der Formulierung jener Regeln gewährt werden, die festlegen, bis zu welchem Grad eine Ungleichheit von Einkommen und Vermögen sowie von Bildungschancen mit dem moralischen Grundsatz gleicher Gerechtigkeit vereinbar ist. Ungleichheiten der Güterausstattung, der Zugangsrechte zu Machtstellungen und Bildungsgütern sollen allein durch solche Gründe gerechtfertigt werden, die in persönlichen Leistungen, beruflicher Verantwortung und gesellschaftlichen Funktionen verankert sind, nicht jedoch in geschlechtsspezifischen Rollenmustern, im Einkommen und Vermögen, im Herkommen und Wohnumfeld der Eltern.

Der Grundsatz realer Chancengleichheit erschöpft sich nicht in gleichen Startbedingungen. Ungeachtet unterschiedlicher Talente und Motivationen sollten die Individuen neben den gleichen Startchancen für ihre Bildungslaufbahn auch effektiv die gleichen Erfolgschancen während des Laufs behalten, indem die Zufallsergebnisse der natürlichen und gesellschaftlichen Lotterie laufend korrigiert werden.


4. Solidarität in der beruflichen Bildung

Nationale Gesellschaften haben weder durch globale Veränderungen noch durch die EU-Methode der offenen Koordination ihre Autonomie verloren, die berufliche Bildung der Marktsteuerung oder der Steuerungsform der Solidarität zu überantworten. Sie sind nicht genötigt, die bisherigen Institutionen der Tarifverträge, die eine relativ ausgewogene Einkommens- und Vermögensverteilung gewährleistet haben, außer Kraft zu setzen. Zu welchen Anteilen Industriewaren oder personennahe Dienste angeboten, in welchem Ausmaß berufliche Bildungsgüter öffentlich oder privat bereitgestellt, ob das Risiko der Bildungsferne privat oder solidarisch abgesichert und ob eine solidarische berufliche Bildung durch Beiträge oder durch Steuern finanziert werden sollen, bleibt weiterhin einer politischen Entscheidung überlassen. Eine solche Autonomie ist auch die Grundlage jener vorrangigen Option, für berufliche Bildungsgüter die Steuerungsform der Solidarität zu wählen und der Marktsteuerung eine zweitrangige Rolle zuzuweisen.

Eine solche Option lässt sich durch fünf Gründe rechtfertigen.


Berufliche Bildung ist erstens kein Gut wie viele andere. Das „Andere“ dieses Gutes besteht darin, dass es ein unmittelbar persönliches Gut ist. Es lässt sich nicht abtrennen von dem Subjekt, das dieses Gut nachfragt. Es ist eine menschliche Person, die mit Würde ausgestattet ist und keinen Preis hat. Heterogene Einheiten, Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten sind in die Form eines Berufs integriert und um dieses Subjekt als einheitsstiftenden Kern gruppiert. Berufliche Bildung ist ein elementarer Bestandteil individueller Lebensqualität, schließt die Befähigung und Ermächtigung zum mündigen Subjekt ein, das Vermögen, „die eigene Geschichte erzählen zu können“, sowie kognitive, praktische und kommunikative Handlungsfähigkeiten – beispielsweise jene Fähigkeit, technisches und ökonomisches Wissen zu verarbeiten, ein Urteilsvermögen, das wichtiges vom unwichtigen, nützliches vom schädlichen, wahres vom falschen Wissen unterscheidet, die Bereitschaft zur Kooperation, die Partnerfähigkeit, das politische Interesse an der Gleichstellung der Geschlechter und demokratischer Beteiligung sowie Zivilcourage und moralische Orientierung ein.

Das Gut berufliche Bildung ist zweitens kein ausschließlich privates Gut. Kinder und Jugendliche sind neugierig, aufmerksam und daran interessiert, sich selbst und ihre Umwelt zu erschließen. Aber sie werden auch extrem zum einen durch Eltern, Familien, Kindergärten, Schulen, Vereine, Verbände, Internet, Gruppen Gleichaltriger und durch Flutwellen öffentlicher Bildungsangebote gelenkt. Wie wenig die Bildung ein ausschließlich privates Gut ist, lässt sich an der schichtenspezifischen Verteilung von beruflichen Bildungschancen und Bildungserfolgen ablesen. Regionale und nationale Bildungsprofile, bürgerliche Bildungswelten, wirtschaftliche Interessen, handwerkliche, literarische, musische Bildungssegmente, Bildungsmilieus und Bildungsszenen, das kollektive Arbeits- und Freizeitverhalten, der Konsum- und Lebensstil prägen das Bildungsspektrum Jugendlicher. Der junge mündige Bildungsbürger, der die Chancen und Risiken des Erwerbs von Bildungsgütern wohl informiert und vernünftig kalkulierend abwägt, ist eine wirklichkeitsfremde Konstruktion. Ein plurales Bündel eigennütziger, fremd gesteuerter, familiärer, sozialer, kommunikativer und moralischer Motive fließt in konkrete Bildungsentscheidungen junger Menschen ein.

Das Gut berufliche Bildung ist drittens ein quasi-öffentliches Gut. Streng genommen ist ein öffentliches Gut dadurch definiert, dass der für den Umgang mit privaten Gütern typische Ausschließungsgrundsatz nicht gilt: Diejenigen, die über das Gut verfügen und dessen Nutzen genießen, können andere von der Verfügung über dasselbe Gut und von dessen Nutzung nicht ausschließen. Öffentliche Güter werden gemeinsam hergestellt und genutzt. Rein privatwirtschaftlich würden sie verzerrt angeboten und nachgefragt, weil Marktsignale, die authentische Informationen liefern und innovative Reaktionen auslösen, nicht zustande kommen. Selbst wenn eine derart strenge Abgrenzung von privaten Gütern für das Gut der beruflichen Bildung nicht zutreffen würde, entspricht ihm zum Teil doch jenes Merkmal, dass die Aneignung des beruflichen Bildungsgutes durch ein Subjekt dessen Aneignung durch andere nicht ausschließt. Der Wert des Bildungsgutes wird durch dessen allgemeine Verbreitung und Aneignung nicht gemindert. Zudem haben Bildungsgüter externe Wirkungen, die gesellschaftlich vorteilhaft, individuell jedoch nicht zuzurechnen sind. Das Bildungsniveau eines individuellen Subjekts strahlt auf andere aus, so hängt unsere gesamte Kultur von gemeinsamen Wissens- und Erfahrungsbeständen ab. Umgekehrt hat die Bildungsferne eines Mitglieds der Gesellschaft negative Folgewirkungen für andere.

Das Gut berufliche Bildung gehört viertens in die Kategorie der Vertrauensgüter. Zwischen denen, die dieses Gut anbieten, und denen, die es nachfragen, besteht ein ungleiches Verhältnis der Kompetenz und Information. Lehrer und Lehrerinnen, Meister und Meisterinnen ergreifen in der Regel die Initiative und leiten die einzelnen Lernschritte an, deren Kette sich über einen längeren Zeitraum hinzieht. Die Qualität der Lernbewegung wird von den Lernenden nicht ohne weiteres durchschaut. Deren lebenswichtige Ergebnisse sind oft erst im Nachhinein erkennbar. Deshalb sind die Lernenden darauf angewiesen, den Lehrenden zu vertrauen. Sie brauchen eine Verhandlungsposition, damit sie nicht einfach der Marktmacht der Anbieter ausgesetzt sind. Von daher legen gute Gründe es nahe, die Organisation oder die Bereitstellung beruflicher Bildungsgüter öffentlich zu regeln. Damit ist nicht gesagt, dass Angebot und Nachfrage detailliert durch den Staat fest geschrieben und selbst organisiert sein müssen. Vielmehr können Sozialpartner, Träger der Selbstverwaltung und zivilgesellschaftliche Initiativen als kompetente Intermediäre auftreten.

In demokratischen Gesellschaften wird fünftens eine angemessene Ausstattung aller Mitglieder mit Bildungsgütern als ein Grundrecht anerkannt. Dieses Grundrecht ist nicht an die individuelle Kaufkraft und das persönliche Leistungsvermögen gebunden. Damit zeichnet sich bereits eine Grenze der Marktsteuerung in der beruflichen Bildung ab. Der Markt kann lediglich auf Signale der Kaufkraft und eines Leistungsvermögens reagieren, das sich die gewünschte Kaufkraft beschafft. In egalitären Gesellschaften sollen weder das eigene Einkommen noch das der Eltern das Bildungsniveau der Individuen bestimmen. Von daher sind der Staat oder die Gesellschaft berechtigt, einen Teil des Volkseinkommens und des Volksvermögens zu beanspruchen und die Wirtschaftsobjekte nach ihrer Leistungsfähigkeit zu besteuern, um jene Ausgaben zu finanzieren, die für die Bereitstellung nicht eines höchstmöglichen, sondern eines als notwendig erachteten Bildungsniveaus für alle erforderlich sind.


Quelle: Berufs-Bildungs-Perspektiven 2008, Solidarität und gemeinsame Verantwortung, Bildungspolitik zwischen falschem Zentralismus und falschem Föderalismus; vorgelegt vom Wissenschaftlichen Beraterkreis der Gewerkschaften IG Metall und ver.di, Mai 2008

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Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 30.05.2008