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Die deutsche Perspektive: Mittlere Systematisierung im Spannungsfeld zwischen Hochschule und Weiterbildung

Wissenschaftliche Weiterbildung, wenn man sie unter institutionellen Aspekten betrachtet, umfasst ein Überschneidungsfeld zwischen zwei Partialsystemen: der Hochschule und der Weiterbildung. Diese stellen zwei sehr unterschiedliche Ausprägungen von Lernsystemen mit differenzierten Profilen dar. Beide sind sowohl unterschiedlichen als auch gemeinsamen Impulsen unterworfen, welche erhebliche Veränderungstendenzen erzeugen.

Es ist allerdings nur schwer möglich, diese empirisch zu beschreiben, weil auf beiden Seiten hinreichende Statistiken fehlen. Auch im Bildungsbericht für Deutschland wird wissenschaftliche Weiterbildung zwar erwähnt, aber zahlenmäßig nicht erfasst. Insofern sind wir bezogen auf die Frage nach der Perspektive darauf angewiesen, Schätzungen und Hochrechungen vorzunehmen. Allerdings gibt es dafür einige Anhaltspunkte, die in unseren Erhebungen belegbar sind. Zum einen gibt es neben dem Berichtssystem Weiterbildung in unseren Länderstudien für Hessen einige Hinweise über Entwicklungstendenzen (Faulstich/Teichler 1991; Faulstich/Gnahs 2006). Zum anderen haben wir auch mehrere Wellen von Erhebungen bezogen auf die wissenschaftliche Weiterbildung selbst durchgeführt (Graessner/Lischka 1996; Bade-Becker/Faulstich/Graessner 2004). Die Länderstudie für Deutschland schließt daran an (Faulstich/Grässner/Bade-Becker/Gorys 2007).

Um sich abzeichnenden Tendenzen in der Weiterbildung begrifflich zu fassen, haben wir das Theorem der „mittleren Systematisierung“ (M.S.) (Faulstich/Teichler 1991) entworfen. Dies kann zum einen dazu dienen, vorhandene Entwicklungslinien und die Besonderheit des Weiterbildungsbereichs zu erfassen. Weiterbildung ist im Unterschied zu anderen Lernsystemen wenig strukturiert und bezogen auf die verschiedenen Aspekte von Lernsystemen „weich“. Zum anderen ist die durch „mittlere Systematisierung“ gekennzeichnete Zwischenlage entwicklungsoffen. Das „M.S.-Theorem“ kann benutzt werden, um die Perspektiven wissenschaftlicher Weiterbildung zu klären.


Aspekte von Lernsystemen

Wenn man die Entwicklung gesellschaftlicher Organisationen des Lernens langfristig betrachtet, kann man feststellen, dass sich eine Tendenz zur Herausverlagerung von Lernaktivitäten aus anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen wie Familien- oder Arbeitssituationen abzeichnet. Diese Besonderung von Lernaktivitäten führt dann zur Herausbildung eigenständiger Partialsysteme für Lernfunktionen. Dies gilt für unterschiedliche Teilbereiche in verschiedenem Maße. Hochschulen waren – nach den Klöstern – die ersten Institutionen, welche gesondert institutionalisiert und reguliert worden sind. Das Wappen der Universität Bologna, welche sich selbst als die älteste Universität bezeichnet, trägt die Jahreszahl 1088.

Demgegenüber ist die Weiterbildung ein Spätentwickler im Bildungsbereich. Selbst wenn man frühe Aktivitäten des Bürgertums in den Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts oder der Arbeiterbildung Mitte des 19. Jahrhunderts einbezieht, hat Weiterbildung eine kurze Geschichte. Zu einem über das Okkasionelle hinausgehenden, relativ stabilen Aktivitätsspektrum ist Weiterbildung eigentlich erst mit der Gründung der Volkshochschulen nach 1919 bzw. ihrer Expansion nach 1965 geworden.

Betrachtet man dem gemäß die Ausprägungen der verschiedenen Merkmalsaspekte von Lernsystemen, gibt es sehr unterschiedliche Grade von „Härte“ bzw. „Weichheit“. Dies bezieht sich auf die Steuerungs- und Regulationsmuster, die Formen, Unterschiedlichkeit und Vielzahl der Institutionalisierung, die Festgelegtheit durch Curricularisierung, die Abschlüsse in Zertifizierungen, den Stellenwert des Personals und seiner Professionalisierung, sowie die unterschiedlichen Formen der Ressourcenerbringung besonders der Finanzierung.


Kontrastierender Vergleich zwischen Hochschule und Weiterbildung

Betrachtet man die einzelnen Ausprägungen der beiden Lernsysteme Hochschule und Weiterbildung, kann man pointiert Kontraste gegenüber stellen. Im traditionellen Verständnis waren Adressaten der Hochschulen „Jugendliche“, insofern sie über ihre eigene Reproduktion nicht verfügten. Der Zugang zur Hochschule ist nach wie vor hoch selektiv und ebenfalls in der der Planung geht es um Vollzeitangebote. Es werden langfristige als Studiengang organisierte Lernangebote gemacht, welche von der Institution selbst getragen werden. Die Inhalte sind disziplinorientiert, und es geht um Präsenz in den Veranstaltungen. Die Abschlussbescheinigungen bestehen in großen Diplomen. Das Personal besteht aus beamteten Personen. Die Leitung wird quasi „ehrenamtlich“ durch gewählte Mitglieder des Lehrkörpers durchgeführt. Die Finanzierung der Hochschulen ist nach wie vor auf Steuern basiert und insofern abhängig von der Regulation durch den Staat.

Kontrastiv dazu geht es bei den Adressaten der Weiterbildung um Erwachsene und der Zugang zu den Angeboten, die meistens in Teilzeit stattfinden, ist weitgehend offen. Es werden kleinere Programme bzw. einzelne Kurse durchgeführt, die an einer Vielfalt von Lernorten stattfinden. Die Inhalte beziehen sich – im optimalen Fall – auf Probleme der Teilnehmenden. Es werden eine Vielfalt von Medien flexibel eingesetzt. Als Abschluss werden – wenn überhaupt – kleine Zertifikate verliehen. Die Personalsituation in der Weiterbildung ist gekennzeichnet durch nebenberufliche bzw. freiberufliche Dozenten. Demgegenüber sind die planenden und leitenden Funktionen hauptberuflich besetzt. Immer schon gab es in der Weiterbildung einen Finanzmix aus Gebühren, Zuschüssen und Steuern. Insofern ist die ökonomische Kennzeichnung von Weiterbildung ein „gemischtwirtschaftliches System“.



Diese Differenzkonstellation verschiebt sich. Die Kontraste werden weicher. Die Grade von M.S. werden in der Hochschule niedriger, in der Weiterbildung höher.


Tendenzen in der Weiterbildung

Es ist durchaus schwierig, einen Überblick über gegenwärtige Entwicklungen in der Weiterbildung zu bekommen. Im Weiterbildungsbericht Hessen für 2005 haben wir versucht dies knapp zusammenzufassen (Faulstich/Gnahs 2005). Es überlagern sich drei Haupttrends: eine Veränderung der Angebotsstruktur, der Personalentwicklung und eine Verschiebung in der Profession. Entsprechend gibt es drei Reaktionsweisen: Versuche höhere Effizienz der Programme durch Kurzfristigkeit zu erreichen, eine stärkere Technisierung und ausgefeiltere Marketingstrategien. Wenn man die generellen Tendenzen der Weiterbildungsentwicklung zusammenfasst, kann man von einer Entstaatlichung, einer Kommerzialisierung, einer Diversifizierung und einer Ökonomisierung sprechen. Gleichzeitig hat aber der Umfang des Weiterbildungsbereichs ein Niveau erreicht, wo mittlerweile stärkere Strukturen greifen z.B. bezogen auf Qualität und auch bezogen auf Zertifikate.




Tendenzen in der Hochschule

Die Debatten in der Hochschule werden beherrscht durch den Bolognaprozess und die Exzellenzinitiative. Gleichzeitig laufen vielfältige, unterschiedliche und gleichzeitig divergierende Einflüsse, welche über die Hochschulen herziehen und vielfältige personelle und institutionelle Verunsicherungen erzeugen. Als Haupttendenzen können wir die Bolognarisierung, die Vermarktlichung und die Managementisierung unterscheiden.

Bei der Reorganisation der Studiengänge in BA-/MA-Strukturen sind Hauptmerkmale die Modularisierung und die Stufung. Ein wichtiger Punkt für die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes ist die damit einhergehende Vermarktlichung. Die Hoffnung auf Einnahmen durch Gebühren bzw. Entgelte ist hier ein wichtiger Impuls. Dabei ist generell zu konstatieren, dass eine Kommerzialisierung ansteht. Daraus folgt auch eine verstärkte relative Autonomisierung von Teileinheiten. Die Fachbereich bzw. Fakultäten erhalten eine stärkere Rolle. Die Hochschule als ganze wird institutionell relativiert und zu einer „Multiversity“ von „schools“. In dieser agieren die internen Partialsysteme auf eigene Rechnung.

Die relativ autonomen Teileinheiten werden geführt nach Prinzipien des „new public management“. Die Führung und Leitung wird übertragen aus den Kollegialorganen von Wissenschaft hin zu leitenden Managern. Diese können als Präsidenten oder Dekane zunehmend weitreichendere Entscheidungen treffen. Dies bezieht sich auf die Finanzen, wo durch die Globalhaushalte entsprechend vergrößerte Entscheidungsspielräume entstanden sind. Gleichzeitig betrifft es auch das Personal, wo durch eigenständige Stellenbewirtschaftung Möglichkeiten einer Verschiebung und Variation im Verhältnis von Stammpersonal und Randpersonal möglich wird.



Auf dem Weg zu einem einheitlichen und gleichzeitig differenzierten Lernsystem „Lebenslangen Lernens“?

Wenn man die verschiedenen Haupt- und Untertrends in den Bereichen der Hochschule und der Weiterbildung überblickt, drängt sich das Bild überlagernder Schwingungen auf, welche zu riskanten Konstellationen führen. Durch den Bolognaprozess ist vieles in Bewegung gekommen und Offenheiten erzeugt worden. Die Grenzen der bisher relativ lose gekoppelten Institutionen verschieben sich und die Durchlässigkeit wird erhöht. Wissenschaftliche Weiterbildung steht dabei im Zentrum dieses Prozesses. Die Trennung zwischen Erstausbildung und Weiterbildung wird zunehmend fraglich. Spätestens im Zusammenhang mit der Diskussion um die „Master- Programme“ ist eine klare Differenz kaum noch systematisch begründbar.

Bezogen auf das Theorem der „mittleren Systematisierung“ könnte eine Entwicklung in Gang gekommen sein, in welcher die Hochschulen „weicher“ und die Weiterbildung „härter“ werden. Der geringe Grad der Systematisierung, der in der Weiterbildung üblich war, holt die Hochschulen ein.



Allerdings geht es insgesamt um eine „mittlere Systematisierung“ der anderen Art. Die ordnungspolitischen Grundsatzdebatten können kaum noch in der Alternative Markt vs. Staat geführt werden. Als neuer Regulationsmechanismus hat sich eine quasi-öffentliche private Kontrollform etabliert: die Akkreditierungsagenturen operieren privatwirtschaftlich im öffentlichen Auftrag.

Es zeichnet sich eine Tendenz ab, bei der eine Individualisierung sowohl der institutionellen Profile als auch der Lernwege erfolgt. Dies ist bezogen auf das Verhältnis von Bildungs- und Beschäftigungssystemen durchaus riskant, weil die durch vereinheitlichende Zertifikate gegebene Verlässlichkeit der unterstellten Kompetenzen fraglich wird. Eine entstehende Diffusität auf den Arbeitsmärkten ist aber langfristig weder im Interesse der Absolventen noch der Rekrutierer. Insofern ist es auch möglich, dass nach einer entstehenden Diffusität mittel- und langfristig auch eine wieder neu bestimmte Systematik sich verstärkt.


Quelle: Denk-doch-mal.de, Ausgabe 1/2010. dort gibt es auch weitere Literaturhinweise zum Artikel.

Schlagworte zu diesem Beitrag: Lebenslanges Lernen, Weiterbildung
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 08.01.2010