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Inklusion geht nicht zum Nulltarif!

Mitarbeitervertreter/innen und Betriebsräte der Berufsbildungswerke und ver.di fordern:
  • Inklusion nicht länger als „Sparpaket“ zu verstehen. Jungen Menschen zu einer inklusiven beruflichen Perspektive zu verhelfen ist kosten- und zeitintensiv und setzt Mitarbeiter/innen voraus, die speziell dafür aus- und weitergebildet sind. Dies erfordert menschenwürdige Rahmenbedingungen, die nicht allein und ständig von Druck und wirtschaftlichen Zwängen geprägt sind!

  • die derzeitige Ausschreibungspraxis der Bundesagentur für Arbeit im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stoppen!

  • die Kostensätze in preisverhandelten Maßnahmen sind so zu gestalten, dass sie über statt unter dem Inflations- und Tarifausgleich liegen, damit Investitionen in Mitarbeiter/innen und „inklusive Ausstattung“ wieder möglich sind!

  • dass BBW-Mitarbeiter/innen nicht zu „lästigen Kostenfaktoren“ degradiert werden. Wir BBW-Mitarbeiter/innen sind diejenigen, die Inklusion, Bildung und Teilhabe für viele junge Menschen überhaupt erst möglich machen.

  • Inklusion richtig verstanden heißt eben nicht „betriebliche Ausbildung für alle!“ – sondern Unterstützung entsprechend dem jeweils individuell notwendigen Bedarf! Und dies setzt die Existenz der vorhandenen Infrastruktur und des Know-How der BBW-Mitarbeiter/innen voraus, um jungen behinderten Menschen weiterhin die Teilhabe zu ermöglichen und Betriebe und Gesellschaft zum Thema Integration und Inklusion zu beraten und zu unterstützen.

  • Unterstützen Sie deshalb diese Forderungen von Mitarbeitervertretungen und Betriebsräten der Berufsbildungswerke, damit Inklusion für alle auch zukünftig gelingen kann!

Die Berufsbildungswerke haben seit rund 30 Jahren den gesellschaftlichen Auftrag für die berufliche Erstausbildung von behinderten oder von Behinderung bedrohter junger Menschen zu sorgen.

In der Zeit ihres Bestehens haben die Berufsbildungswerke immer wieder bewiesen, dass sie den Anforderungen sich verändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gerecht werden konnten.

So erfolgte eine ständige Anpassung an die Neuordnung der Berufe und eine stetige Ausweitung des Berufsbildungsangebotes. Aktuell können die Teilnehmer/innen ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechend in 240 verschiedenen Berufen ausgebildet werden. Dabei erhalten sie eine persönliche Unterstützung durch die Mitarbeiter/innen der Berufsbildungswerke im Rahmen der individuell ausgerichteten Förderplanung. Diese Förderung, die bei den Fähigkeiten und Neigungen der jungen Menschen mit Behinderungen ansetzt, erfolgt durch besonders qualifiziertes, rehabilitationspädagogisch ausgebildetes Personal. Am Ende dieser vielen Berufsausbildungsgänge steht für 92% der Absolventen eine erfolgreiche Prüfung bei den zuständigen Kammern. So das Ergebnis im Zeitraum 2009 bis 2010. Für diesen Zeitraum ergab die jährlich stattfindende Nachbefragung von Teilnehmer/innen, dass 62,5% ein Jahr nach ihrer Ausbildung einen Arbeitsplatz gefunden hatten.

Mit diesen Ergebnissen leisten die Berufsbildungswerke einen entscheidenden Beitrag für behinderte junge Menschen auf ihrem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Aber nicht nur im Ergebnis sind die Berufsbildungswerke inklusiv. Seit Bestehen der Berufsbildungswerke sind Teile der Ausbildung in Form von Praktika und Kooperationen in den Betrieben der Wirtschaft und der Verwaltungen erfolgt.

Gemäß Grundgesetz Art. 3, in Verbindung mit dem SGB III § 112 ff. und dem SGB IX § 35 haben behinderte Menschen einen Anspruch auf Gleichbehandlung und Fördermöglichkeiten, die ihren Bedürfnissen entsprechen.
Den Teilnehmer/innen der 52 Berufsbildungswerke (BBW) in der Bundesrepublik werden auf Grund ihrer psychischen und/oder körperlichen Behinderung zu einem überwältigenden Teil die Teilhabe am Arbeitsleben und der Gesellschaft verwehrt.

Als junge Erwachsene, die mit einer ersten Berufsausbildung ihr Leben eigenständig gestalten wollen, ist es ihnen aus eigener Kraft oft nicht gegeben, den ersten Schritt in ein eigenverantwortlich und selbst bestimmtes Leben zu gehen. In einer Gesellschaft, die Inklusion nach Maßgabe der UN-Menschenrechtskonvention „leben“ soll, dies aber noch nicht kann, ist es für die meisten kaum möglich, einen Ausbildungsplatz auf dem „Ersten Arbeitsmarkt“ zu erhalten – geschweige denn, die Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Nicht erst seit sich der Inklusionsgedanke Bahn bricht, haben diese Menschen den Anspruch auf Respekt und Akzeptanz sowie das Recht auf den Erhalt einer fundierten Ausbildung und – in Folge dessen – die Chance auf ein eigenständiges Leben. Die Gesellschaft kann diesen Ansprüchen nicht ganz entsprechen, kann diese Rechte und Chancen in der alltäglichen betrieblichen Praxis nicht in einem Umfang garantieren, wie die Berufsbildungswerke das sehr wohl können!

Die BBWs ermitteln und benennen nicht nur die notwendigen Hilfsangebote, sie führen sie auf den unterschiedlichsten Ebenen (Wohnen, Arbeiten, Lernen, Freizeit) in ganzheitlicher Form auch durch, vermitteln und begleiten schlussendlich in Arbeit und Gesellschaft. Ohne Übertreibung kann man sagen: die BBW��s sind „Intensivstationen“ im Bereich der Erstausbildung für benachteiligte junge Erwachsene und machen Inklusion erst möglich.

Zu Recht dürfen junge Menschen in den BBW��s festgelegte Standards erwarten:
  • individuelle Förderung nach Bedarf und persönlicher Veranlagung sowie Unterstützung in lebenspraktischen Belangen

  • Hilfe beim Ausüben individueller Rechte bezüglich Fragen der Ausbildung, des Wohnens etc.

  • Integrations- und Förderteams, die kompetent und über lange Zeit begleiten

  • Zusätzliche Förderung in schulischen Belangen durch qualifizierte Anpassung von Methodik und Didaktik bei der Vermittlung von Lerninhalten und Förderung in kleinen Gruppen

  • Besondere Hilfen durch Ausbildung in eigenen Werkstätten/Betrieben und behutsames Heranführen an externe/zukünftige Betriebe durch vermehrte und intensiv betreute Praktika

  • Schnittstellen in die freie Wirtschaft – Betriebspraktika und betriebliche Ausbildungsphasen, Verzahnte Ausbildung, z.B. VAmB und TrialNet, Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche und Nachbetreuung nach Abschluss der Ausbildung

  • Individuelle therapeutische Angebote und Coachings durch Fachpersonal wie Ärzte, Psychologen, Ergotherapeuten, Sozialpädagogen

Diese Standards haben sich in den letzten Jahren durch die Preispolitik der Bundesagentur für Arbeit für die Teilnehmer deutlich verschlechtert!
Die Maßnahme-Kostensätze wurden seit ca. 10 Jahren nicht an die allgemeine Kostenentwicklung angepasst. Dies hat in der Folge zu einer Situation in den BBWs geführt, die u.a. durch folgende Aspekte gekennzeichnet ist:
  • Die Beeinträchtigungen/Krankheitsbilder werden komplexer und die Häufung der komplex Beeinträchtigten ist eklatant. Diesem höheren Betreuungsaufwand wird zu Lasten der jungen Menschen mit weniger Personal als in der Vergangenheit begegnet

  • Die Konstanz der Betreuung nimmt ab durch Fluktuation bei den Mitarbeitern/innen und deren zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dadurch ist eine wesentliche Grundlage der BBW-Arbeit, das Arbeiten über langfristige und nachhaltige Beziehungen, empfindlich gestört

  • Ausbildungsgruppen und Klassen werden zusammengelegt, Klassenstärken von 8 – 12 auf 16 Schüler angehoben, da kleine Gruppen in Folge wirtschaftlicher Zwänge und Belegungsrückgang „sich nicht mehr rechnen“. Die Betreuungsschlüssel werden erhöht und durch zu wenig und zu überlastetes Personal wird eine zeitnahe und zielgenaue Hilfe erschwert

  • Verminderung zusätzlicher Förderangebote

  • Unterschiedliche Aufnahmezeitpunkte der Teilnehmer/-innen in die BVB und in die Ausbildung, wodurch die Bildung von sozial funktionierenden Einheiten erschwert bzw. konterkariert wird.

Die Mitarbeiter/innen der Berufsbildungswerke und ver.di betrachten diese Entwicklung mit großer Sorge!


Die Berufsbildungswerke beschäftigen in Ausbildung, Lehre, Erziehung sowie sozialpädagogischer und therapeutischer Begleitung hervorragend qualifizierte Mitarbeiter/innen. Sie sind im besonderen Maße durch ihre Ausbildung, ihr Studium und umfangreiche Fort- und Weiterbildung für die Förderung schwer gehandicapter junger Menschen geeignet. In hoch spezialisierten Unterstützungsteams begleiten und beraten sie die jungen Menschen in ihren Anstrengungen nach beruflicher und gesellschaftlicher Teilhabe. Die Mitarbeiter/innen in den Berufsbildungswerken sind Profis in der bestmöglichen Förderung junger Menschen, die sich meist an der Grenze zur Ausbildungsfähigkeit bewegen. Sie sind Spezialist/innen im Umgang mit Menschen mit sehr heterogenen Lern-, Leistungs- und Entwicklungsvoraussetzungen.

Dennoch sind in vielen Berufsbildungswerken die Mitarbeiter/innen mittelbar oder unmittelbar von Arbeitsplatzverlust bedroht.

Die Ursachen liegen in einem allgemeinen und nicht mit der demografischen Entwicklung zu begründenden Belegungsrückgang durch die Arbeitsagenturen. Dazu kommt die Aufkündigung ehemals vereinbarter „Belegungskontingente“ in vielen BBWs. Immer spätere Anmeldungen (oft während oder nach den Sommerferien) machen eine vorausschauende Planung hinsichtlich der Beschäftigten zahlen praktisch unmöglich. Die Stagnation und dadurch faktische Verringerung der Kostensätze der preisverhandelten Maßnahmen decken in vielen BBWs seit Jahren nicht einmal mehr die Kosten der Tarifsteigerungen, geschweige denn die um ein vielfaches gestiegenen Energie- und Material kosten. Nicht zuletzt setzt die Ausschreibungspraxis eine Preisspirale in Gang, die sich stetig weiter abwärts dreht und damit die Existenz der BBWs gefährdet.

Der steigende Kostendruck verändert zunehmend die strukturellen Rahmen- und Arbeitsbedingungen und erfordert ein immer flexibleres Reagieren. Gleichzeitigt ist eine allgemeine Tendenz zu prekären Beschäftigungsverhältnissen festzustellen:
  • Verordnete Teilzeitarbeit, Anhebung und Absenkung der Arbeitszeit je nach Belegung
  • Maßnahme gebundene Befristungen über viele Jahre hin weg
  • Sparen am „Betreuungsschlüssel“
  • Sparen an der existentiell wichtigen Fort- und Weiterbildung für Mitarbeiter/innen
  • fehlende Tarifbindung und dadurch seit Jahren stagnierende Löhne und Gehälter in einigen BBWs
  • Gründung von hausinternen Personal-Leasing-Gesellschaften, um vorhandene Tarifverträge zu unterlaufen
  • Gründung von Subunternehmen, in denen Dumpinglöhne gezahlt werden
  • Honorar- und Werksverträge
  • „Outsourcen“ ganzer Abteilungen

Diese Entwicklungen führen zunehmend zu Existenzängsten bei den Mitarbeiter/innen bezüglich der eigenen beruflichen Zukunft.
Dennoch müssen sich die Mitarbeiter/innen täglich erneut engagiert und in ausgeglichener Stimmung den Teilnehmer/-innen zuwenden, um Druck von ihnen fernzuhalten und ihnen das zu geben, was in der Arbeit mit beeinträchtigten und behinderten jungen Menschen der wichtigste Faktor ist, und das ist Zeit!

Flächendeckend ist jedoch eine zunehmende Arbeitsverdichtung mit wachsenden psychischen Belastungen für die BBW-Mitarbeiter/innen erkennbar, durch:
  • immer größere und immer heterogenere Ausbildungs-, Unterrichts- und Wohngruppen mit zunehmenden psychosozialen, aber auch aggressiven und dissozialen Verhaltensauffälligkeiten der Teilnehmer/innen

  • zu wenig Personal, insbesondere, um den stetig steigenden Bedarf an psychologischer und psychotherapeutischer Begleitung zu decken

  • stetig wachsenden Dokumentationsaufwand, wodurch die sowieso knapp bemessene Zeit für den eigentlichen Auftrag immer geringer wird

  • Einsparung notwendiger Investitionen. Die laufende Mitarbeiterqualifizierung oder die Ausstattung und Modernisierung von Arbeitsstätten, um die Ausbildungsplätze in den BBWs für noch „nicht betriebsreife“ junge Menschen realitäts-, betriebsnah und damit „inklusiv“ gestalten und ausstatten zu können, werden meist kaum mehr getätigt, da diese bei sinkender Belegungszahl, stagnierenden Kostensätzen oder Preisdumping in ausgeschriebenen Maßnahmen nicht mehr finanziert werden können.

Für unsere Auszubildenden und Schüler sehen wir die Grenze der Zumutbarkeit erreicht. Wir sehen nicht nur ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte beeinträchtigt, sondern in einzelnen Situationen auch ihre Würde.


Diese Resolution wird unterstützt von den Betriebsräten und Mitarbeitervertretungen nachstehender Berufsbildungswerke, vom Arbeitskreis berufliche Rehabilitation/Berufsbildungswerke (AK Reha) des ver.di Bundesfachbereichsvorstandes Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie weiterer Organisationen und Einzelpersonen.


Sie können diese Resolution hier als pdf-Datei herunterladen.



Verweise zu diesem Artikel:
Schlagworte zu diesem Beitrag: Ausbildung, Öffentliche Beschäftigungspolitik
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 13.12.2013