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Der Sozialstaat in der Corona-Krise

Arbeitsmarktpolitik

In der Corona-Krise haben sich zahlreiche Regelungen und Institutionen am Arbeitsmarkt als zugleich grundsätzlich sinnvoll und in ihrer konkreten Ausgestaltung unzureichend erwiesen. Dies gilt etwa für das Instrument der Kurzarbeit. Wenn einem Unternehmen Aufträge und Umsätze wegbrechen und es deshalb für seine Beschäftigten keine Arbeit mehr hat, kann es für diese bei der Bundesagentur für Arbeit Kurzarbeit beantragen: Sie arbeiten dann bis zu 100 Prozent weniger und erhalten ein reduziertes Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 (ohne Kinder) bzw. 67 Prozent (mit Kindern) des letzten Nettogehalts.

Da Kurzarbeit Jobs sichert, hat sie zu Recht einen guten Ruf. Allerdings gewährleistet sie den Lebensunterhalt der Betroffenen nur bedingt: Von 60/67 Prozent des letzten Nettogehalts können viele Haushalte ihre Lebensmittel, Mieten und Kredite nicht bezahlen. Die Bundesregierung hat (auch auf Druck der Gewerkschaften) auf 70/77 Prozent ab dem 4. Monat und 80/87 Prozent ab dem 7. Monat angehoben. Leider ist diese Erhöhung aber zeitlich befristet und sie wird erst nach Monaten wirksam. Das Problem, dass viele (gerade Geringverdiener*innen) von ihrem Kurzarbeitergeld nicht leben können, löst sie damit nicht. Das Kurzarbeitergeld muss für die Zeit der Krise auf 90 bzw. 97 Prozent für Bezieher von Nettoeinkommen unter 2500 Euro aufgestockt werden. Für alle anderen Einkommen muss das KuG auf 80 bzw. 87 Prozent erhöht werden.

Das staatliche Kurzarbeitergeld kann seitens des Arbeitgebers aufgestockt werden, was oft in Tarifverträgen (mit Gewerkschaften) oder Betriebsvereinbarungen (mit Betriebsräten) geregelt wird. So hat ver.di beispielsweise Aufstockungstarifverträge für Beschäftigte bei den Kommunen, in der Filmproduktion, im Einzelhandel Nordrhein-Westfalen sowie in der privaten Versicherungsbranche abgeschlossen. Gerade in Branchen ohne nennenswerte Verbreitung von Tarifverträgen oder betrieblicher Mitbestimmung wird allerdings kaum aufgestockt. Da dies oft Branchen und Unternehmen mit ohnehin niedrigem Lohnniveau sind, geraten die dort Beschäftigten in Kurzarbeit besonders unter finanziellen Druck. Hier kann und muss eine höhere Tarifbindung und eine Stärkung der Mitbestimmung Abhilfe schaffen: Auch gesetzliche Mittel – etwa die häufigere und leichtere Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen – sind gefragt. Diese Feststellung ist keineswegs neu, das Problem der abnehmenden Tarifbindung diskutieren wir vielmehr seit vielen Jahren. Die Corona-Krise unterstreicht aber die Notwendigkeit einer Trendumkehr.

Ähnliches gilt auch für immer weiter um sich greifende Formen prekärer Arbeit wie etwa Befristungen, Leiharbeit und Werkverträge. Befristet Beschäftigte sowie Beschäftigte in Leiharbeit und Werkvertragskonstruktionen waren und sind die ersten, die in Krisensituationen (wie der aktuellen) entlassen wurden und werden. Die Unternehmen behandeln sie als Puffer. Das ist nicht nur unsozial, sondern auch ökonomisch unsinnig, da Arbeitgeber so einen Teil des eigenen Risikos auf diese Beschäftigten überwälzen. Prekäre Beschäftigungsformen wie die Leiharbeit müssen daher stärker reguliert und zurückgedrängt werden. Für Leiharbeitsbeschäftigte brauchen wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit plus einer Flexibilitätszulage. Befristungen sind auf ein Mindestmaß zu begrenzen, sachgrundlose Befristungen sind abzuschaffen.

Aufmerksamkeit verdienen auch jene Konstruktionen, bei denen Werkverträge mit dem Zur-Verfügung-Stellen von Übernachtungsmöglichkeiten auf niedrigstem Standard kombiniert werden. Vielerorts erwiesen sich die entsprechenden Unterkünfte als Verbreitungsherde für das Corona-Virus. Das Verbot von Werkverträgen im Kerngeschäft der Fleischindustrie ist ein erster Schritt zur Regulierung solcher Exzesse, es muss auf weitere Branchen ausgedehnt werden.

Solo-Selbstständige waren mit die ersten, die von der Krise getroffen wurden – beispielsweise in den Bereichen Medien, Bildung, Kultur, Gesundheit und Wellness. Durch Veranstaltungsverbote und Kontaktbeschränkungen brachen ihnen schlagartig Aufträge weg, teilweise sogar zu 100 Prozent. Den allermeisten Betroffenen fehlte eine Absicherung durch die Sozialversicherungssysteme, zugleich fielen zahlreiche Solo-Selbstständige durch die Raster der (grundsätzlich sinnvollen) Rettungsprogramme von Bund und Ländern. Das Problem: Unterstützungsleistungen durften in den meisten Bundesländern nur für Betriebsausgaben, nicht aber für die Lebenshaltung verwendet werden.

Ein Problem war und ist zudem, dass – trotz langjähriger entsprechender Forderung der Gewerkschaften – die Solo-Selbstständigen nicht in die Sozialversicherungen einbezogen sind, selbst eine freiwillige Versicherung in der Arbeitslosenversicherung den allermeisten verwehrt ist. Dass dies nun dringend erfolgen sollte, ist eine der wichtigsten Lehren aus der Krise. An der Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträge sind auch die Auftraggeber angemessen zu beteiligen.

Eine gezielte Krisen-Unterstützung für Solo-Selbstständige in Verbindung mit ihrer umfassenden Absicherung in den gesetzlichen Sicherungssystemen wäre im Übrigen auch weitaus zielgenauer und gerechter als ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es im Laufe des Frühjahrs wiederholt (und prominent in einer Online-Petition) gefordert wurde. Letzteres würde nach dem Gießkannenprinzip auch jenen zukommen, die weder solo-selbstständig sind noch dieses Geld brauchen – und es würde entsprechend an anderer Stelle fehlen, wo es sinnvoller eingesetzt wäre.

Auch Beschäftigte in Minijobs wurden besonders hart von der Krise getroffen worden, die in einem Minijob arbeiten. Viele Rentnerinnen und Rentner, Studierende, Erwerbslose oder Beschäftigte im Niedriglohnbereich brauchen diese Jobs um ihren ohnehin beschiedenen Lebensunterhalt finanzieren zu können. Viele arbeiten in der Gastronomie, im Handel oder anderen Bereichen, die von den Lockdown-Maßnahmen betroffen waren. Doch es gab für sie keine Möglichkeit, Kurzarbeitergeld in Anspruch zu nehmen, weil zuvor auch keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt wurden, und auch kein Arbeitslosengeld.

Bisher profitieren die Arbeitgeber von der höheren Flexibilität und niedrigeren Lohnkosten der Minijobs. Die weitgehende Lohnsteuerfreiheit dieser Jobs hat zudem Anreizwirkung auch für Beschäftigte. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Zahl der Minijobs auf etwa acht Millionen mehr als verdoppelt, davon etwa drei Millionen Nebenjobs. Vielfach wurde existenzsichernde Vollzeitbeschäftigung durch Minijobs ersetzt.

Ver.di und der DGB sprechen sich seit langem dafür aus, die Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu überführen. Damit wären dann volle Leistungen der Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung verbunden. Es fiele dann auch leichter andere Arbeitnehmerrechte wie bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, gleicher Lohn für gleiche Arbeit in Anspruch zu nehmen. Diese Ansprüche haben geringfügig Beschäftigte eigentlich heute schon, tatsächlich werden sie aber häufig nicht beachtet. Neben Aufklärung sind hier bessere Kontrollen und wirksame Sanktionen gegen Verstöße der Arbeitgeber nötig.

Um zu verhindern, dass die Sozialbeiträge die Nettoeinkommen der bisherigen Minijobberinnen und Minijobber schmälern, sollen bis 850 Euro Monatslohn die Arbeitgeber den Hauptteil der Beiträge zahlen: Bis 100 Euro die kompletten Beiträge, bei 450 Euro zwei Drittel, ab 850 Euro dann wie üblich die Hälfte. Für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf braucht es zudem ein Recht auf befristete Teilzeit und ein Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit.

Arbeitgeberverbände und Teile der Union nutzen die Krise, um erneut Stimmung gegen den Mindestlohn oder dessen Erhöhung zu machen. Stur und ignorant entwerfen sie Szenarien von angeblichen Arbeitsplatzverlusten, obwohl die Realität solche Behauptungen schon in der Vergangenheit Lügen gestraft hat. Gute Gründe gegen eine Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro gibt es auch in Corona-Zeiten nicht – Gründe dafür aber einige: Allen voran der Beitrag, den ein höherer Mindestlohn gegen prekäre Beschäftigung und zur Stärkung der Beschäftigten leisten kann. Hier muss die Regierung handeln. Die Gewerkschaften können eine solche Einmalanhebung in der Mindestlohnkommission aufgrund der Vetomacht der Arbeitgeber nicht durchsetzen.

Zum Schutz vor einer weiteren Ausbreitung der Corona-Pandemie wurden auch die Schulen und Kitas zeitweise geschlossen. Eine Notbetreuung für die Kinder von Eltern, deren Tätigkeit selbst wiederum als „systemrelevant“ auch in der Krise fortgesetzt werden musste, wurde allerdings gewährleistet. Die zeitweise Schließung von Kitas und Schulen stellte viele Eltern vor gravierende Schwierigkeiten, Beruf und Kinderbetreuung miteinander zu vereinbaren. Sofern keine andere Kinderbetreuung organisiert werden konnte, mussten viele Eltern bezahlten oder unbezahlten Urlaub nehmen – wodurch aus einem zeitlichen Problem (auch) ein finanzielles werden konnte.

In der Krise werden Frauen wieder stärker benachteiligt. Sie trugen die Hauptlast der wegfallenden Betreuungsmöglichkeiten. Das zeigt auch eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung: In Haushalten mit mindestens einem Kind unter 14 Jahren haben in der Krise 27 Prozent der Frauen, aber nur 16 Prozent Männer ihre Arbeitszeit reduziert, um die Kinderbetreuung zu gewährleisten. Die zusätzlich anfallende Sorgearbeit wurde auch in Familien mit einer vormals gleichberechtigten Verteilung unbezahlter Arbeit nun vor allem von den Frauen übernommen.

Die Bundesregierung hat auf die Schließung von Kitas und Schulen reagiert, indem sie im Infektionsschutzgesetz kurzfristig Verdienstausfallentschädigungen für betroffene Eltern in Höhe von 67 Prozent des letzten Nettogehalts einführte. Dies war grundsätzlich sinnvoll, wies aber zahlreiche Lücken auf: Wer im Homeoffice arbeitete oder nur Kinder über 12 Jahren hatte, fiel durch das Raster. Zudem musste der Arbeitgeber einer Freistellung bei Bezug der Lohnfortzahlung zustimmen, ein eigenständiges Recht der Beschäftigten gab es nicht. Zudem ist diese Regelung, wie viele andere auch, nur befristet. Es wäre sinnvoll, die sie in Vorbereitung auf zukünftige Pandemien zu entfristen und die genannten Lücken zu beheben.

Darüber hinaus brauchen wir mehr pädagogisches Personal in Krippen, Kitas und an Schulen. Schon vor Corona gab es hier einen eklatanten Fachkräfte- Engpass. Da viele Angehörige von Risikogruppen ihrer Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen zeitweise nicht weiter nachgehen konnten bzw. können, hat sich dieser Engpass im Zuge der Corona-Krise – trotz zeitweiser Schließung der Einrichtungen – noch verschärft. Die eigentlich wünschenswerte Betreuung und Unterrichtung in Kleingruppen, durch die sich Ansteckungen vermeiden oder zumindest reduzieren ließen, war und ist mangels Personal dadurch nicht oder nur eingeschränkt möglich. Um die Betreuungs- und Erziehungsangebote flächendeckend bedarfsgerecht ausbauen und den pädagogischen Anforderungen dabei gerecht werden zu können, sind etwa 100.000 zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher notwendig.


Quelle: Wirtschaftspolitik Informationen ver.di, Juli 2020, Nr. 2

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Schlagworte zu diesem Beitrag: Öffentliche Beschäftigungspolitik, Freiberufler/Selbstständige
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 14.07.2020